
“Wider Europe”, oder: was Russland und die Ukraine mit der Zukunft Europas zu tun haben
Wie Michael Hudson kürzlich festhielt, zählen vor allem Deutschland – und Österreich – zu den eindeutigen Verlierern des Ukraine-Konflikts: das Ende der mitteleuropäischen Spezifika, allen voran des Mittelstands, ist nahe, und auch die Zukunft sieht alles andere als rosig aus. Selbst wenn man einigermaßen glimpflich durch den Winter 2022/23 kommt, steht vor den Energielieferungen für den darauf folgenden Winter vor allem ein riesengroßes Fragezeichen. Einige Gedanken zu den weißen Flecken in Hudsons Beitrag (über den TKP bereits berichtet hat).
Nachfrage-Reduktion als Schlüssel
Ungeachtet des im Sommer aufgetauchten angeblichen Strategiepapiers, das die RAND Corp. als „Fake“ bezeichnet hat, zeichnen sich die Konturen der Zukunft langsam aber sicher ab. Da ist einerseits der klare Niedergang von Industrieproduktion und Wohlstand in Mitteleuropa, der vor allem die Nutznießer des Gasimports aus Russland trifft: deutsche, österreichische und schweizerische klein- und mittelständische Unternehmen haben überproportional von der günstigen Energie profitiert, die über eine Vielzahl von Kontakten gegen Technologietransfer gen Osten gleichsam „abgegolten“ wurde. Dies heißt keineswegs, dass die Groß- und Schwerindustrie und die Großverbraucher (v.a. die Chemiewirtschaft) am Standort Mitteleuropa nicht ebenso profitiert haben, doch jegliche Annahme, dass man „den Russen“ ja nur ihr Gas abgekauft hatte, ist ebenso fiktional wie die oft geäußerte Herablassung, „Russland [sei] eine Tankstelle, die sich als Land ausgibt“.
Ungeachtet der Werturteile (die ja auch aktuell in Echtzeit überprüft werden), so sei an dieser Stelle auf die drastischen Konsequenzen hingewiesen, die die europäischen Volkswirtschaften erwartet: wie Michael Hudson korrekt bemerkt, so ist der pro-Kopf-Energieverbrauch ein an sich verlässlicher Indikator für Einkommen und Wohlstand. In den High North News hingegen findet sich der klare Hinweis, wie die angebliche Strategie der EU aussieht, mit der Energieversorgungskrise umzugehen:
Nachfragereduzierung ist der Schlüssel
Der weltweite Flüssiggas-Markt wird sich in den kommenden Monaten wahrscheinlich deutlich verengen. China kündigte letzte Woche an, den Verkauf von Flüssiggas an ausländische Käufer zu stoppen, um die Flüssiggas-Abflüsse aus dem Land zu verringern.
Um die Abhängigkeit von russischem Gas, sowohl von Pipeline- als auch von Flüssiggas, langfristig zu überwinden, muss der Verbrauch nach Ansicht von Experten erheblich gesenkt werden.
Weniger Energie = sinkender Wohlstand
Ein erhebliches Senken des Verbrauchs bedeutet im Klartext: schwindender Wohlstand. Falls Sie noch Fragen haben sollten, wie dies der Wählerschaft verkauft werden soll, so bietet der zitierte Beitrag ebenso eine Antwort:
„Die EU hat einen klaren Fahrplan, um ihre Abhängigkeit von Russland zu verringern“, sagt Raphel Hanoteaux, Senior Policy Advisor für Gaspolitik bei Third Generation Environmentalism E3G, einer unabhängigen Denkfabrik zum Klimawandel.
„Mit der Umsetzung des Klimagesetzes wäre die EU auf dem besten Weg, ihren Gasverbrauch im Vergleich zu 2019 um rund 35 Prozent zu senken“, so Hanoteaux abschließend.
Nebenbei – die „unabhängige“ Denkfabrik wird, wenig überraschend, von den „üblichen Verdächtigen“ finanziert: verkleidet als Nichtregierungsorganisation, weist deren Homepage neben der EU unter anderem die Regierung Deutschlands, Großbritanniens, Kanadas und der Niederlande sowie die Stiftungen von George Soros (Open Society) und der Rockefeller-Familie aus.
Was hier verkauft wird, ist also keineswegs „unabhängig“ oder gar „alternativlos“. Im Gegenteil, ersichtlich ist erneut der lange Arm westlicher Staats- und Unternehmensgewalt, die gleichsam durch die Hintertür die in den letzten Jahren nahezu auf der Strecke gebliebenen Klimawandel- und Umweltpolitik forciert.
Dies blieb auch Herrn Hudson nicht verborgen, der festhielt, dass (unausgesprochen: „nach“ Corona) „das Ende aller internationalen Kooperation zur Eindämmung der globalen Erwärmung ein weiteres Nebenprodukt von Amerikas Neuem Kalten Krieg“ gegen Russland ist.
Unabhängig von den Meriten einer aktivistischen Klimapolitik, was in Hudsons Beitrag ebenso unerwähnt verbleibt ist, was der sinkende Wohlstand tatsächlich bedeutet: den drohenden Kahlschlag der sozialen Sicherheitsprogramme, denn eines ist klar – Wirtschaftskrise ist nahezu immer das Codewort für: Pensionsreformen.
Mangel europäischer Solidarität
Wie weit der Zerfall der EU bereits fortgeschritten ist, zeigt sich nicht nur in Umfragen, die eine drastische Zunahme von „anti-europäischen Stimmen“; im Herbst 2022 plädierten immerhin 27% für einen Austritt Österreichs aus der EU, was zwar noch nicht in der Nähe des Allzeithochs ist (33% für einen Austritt im Juli 2008), aber wie man am britischen Beispiel sehen kann, ist ein EU-Beitritt nichts Unwiderrufliches.
Hinzu kommt der in dem Beitrag von High North News angesprochene Mangel europäischer Solidarität, der der EU in ihrer gegenwärtigen Konstellation im Moment wenig entgegen gehalten wird. Betrachtet man jedoch die Tatsache, dass die EU-Kommission nach wie vor keine aktuellen Zahlen über die Folgen der anti-russischen Sanktionen veröffentlicht – klicken Sie hier für deren Infografiken, die als Folgen allesamt „Vorhersagen“ anführen – so stellen sich mindestens Fragen danach, wie „Europa“ nächstes Jahr aussehen wird.
Denk’ ich an Europa in der Nacht…
…so stehen wir vor einer Reihe unangenehmer Fragen: die Sanktionen gegen Russland bzw. die Unterstützung für Kiew sind bis anhin überwältigend als „alternativlos“ bezeichnet worden; wie aber steht es um die Glaubwürdigkeit der EU- und nationalen Führungspersonen, wenn nun deren Politik alsbald einem „Fakten- und Realitätscheck“ unterzogen wird?
Man könnte nebenbei auch das Versagen derselben EU- und nationalen Führungspersonen im Zusammenhang mit Corona anführen (TKP berichtete), doch scheint dieser „Vergleich“ nur noch mehr Fragen (und Sorgen) denn Antworten nach sich ziehen.
An anderer Stelle habe ich ausführlich über die Hinterzimmer des bevorstehenden Wandels der EU geschrieben, wobei die zentrale Erkenntnis nicht deren fundamental antidemokratischer Charakter oder die Schamlosigkeit derselben EU- und nationalen Führungspersonen ist; vielmehr steht im Raum, welche „Gründe“ den souveränen Völkern Europas vorgespielt werden, wenn es um den Radikalumbau der EU geht.
Bevor Sie nun aufschreien und nach Beweisen für diese Aussagen verlangen, darum soll es nun gehen.
Wider Europe
Haben Sie schon einmal von der Idee eines „Wider Europe“ (etwa: „größer gefasstes Europa“) gehört? Falls nicht, so sind Sie hier – ein Verweis auf das „European Council on Foreign Relations“ – an der richtigen Stelle.
Am 23./24. Juni 2022 hat sich der Europäische Rat in Brüssel getroffen und unter anderem über die Pläne des vertieften Umbaus der EU beraten. In den Sitzungsprotokollen des Treffens finden sich lediglich einige lapidare Aussagen, deren Tragweite jedoch maßgeblich ist (meine Hervorhebungen):
Der Europäische Rat hat eine strategische Diskussion über die Beziehungen der Europäischen Union mit ihren Partnern in Europa. Er erörterte den Vorschlag zur Gründung einer europäischen politischen Gemeinschaft.
Was, wer und wie?
Ziel ist es, eine Plattform für die politische Koordinierung der europäischen Länder auf dem des Kontinents bieten. Sie könnte alle europäischen Länder betreffen, mit denen wir enge Beziehungen unterhalten.
Das Ziel wäre die Förderung des politischen Dialogs und der Zusammenarbeit bei Fragen von gemeinsamem Interesse, um die Sicherheit, die Stabilität und den Wohlstand auf dem europäischen Kontinents zu stärken.
Ein solcher Rahmen wird nicht an die Stelle bestehender EU-Politik und -Instrumente treten, insbesondere der Erweiterung, und wird die Entscheidungsautonomie der Europäischen Union in vollem Umfang respektieren.
Auf der Grundlage dieses ersten Gedankenaustauschs wird sich der Europäische Rat erneut mit dem Thema.
Plus ça change, plus c’est la même chose
Das letzte Mal, als Brüssel den Europäern ein derartiges „Menü“ vorgesetzt hatte, wurde der „Verfassungsvertrag“ von den Wählern in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Man setzte seitens Brüssels daraufhin auf die „Hintertür“ des Lissabonner Vertrags, der 2007/09 in Kraft trat.
Geändert hat sich an der Herablassung Brüssels für die fortgesetzte Existenz der recht- und verfassungsmäßigen Ordnung der Mitgliedstaaten wenig.
Der nächste „Integrationsschub“ steht uns also bevor, der übrigens explizit „die Länder des Westbalkans, die Türkei und der ehemaligen Sowjetrepubliken“ umfassen soll, wie dies auf der Homepage der „Atlantic Initiative“ ausgeführt wird.
Betrachtet man die mehrfachen Krisen, vor denen wir in Europa – selbst- wie fremdverschuldet – stehen, beschleicht mich ein bedrückendes Gefühl. Wir haben bereits im Sommer gesehen, wie die EU-Kommission massiv für die eine Vergemeinschaftung der bis anhin außerhalb aller EU-Bemühungen verbliebenen Energiefragen drängte.
Hinweise zu der Corona-Politik Brüssels erübrigen sich an dieser Stelle.
Gepaart mit den offenbar begonnen Umbauarbeiten dem „Projekt Europa“ steht uns wohl der nächste große Wandel unmittelbar bevor.
Erhöhte Wachsamkeit bietet sich angesichts vergangener Danaergeschenke in jedem Fall an.
Bild Giovanni Domenico Tiepolo artist QS:P170,Q435316, The Procession of the Trojan Horse in Troy by Giovanni Domenico Tiepolo (cropped), als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
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2 Kommentare
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Hallo,
bei einigen Sätzen konnte ich nur noch mit Mühe kombinieren, was sie wohl sagen sollten. Lost in translation?
Was auch immer die Eurokraten (in USA-Auftrag) sich da ausmalen mögen, vielleicht kommen sie da ein bisschen zu spät.
Ukraine und EU ging nach hinten los, da hat Russland Fakten geschaffen.
Sanktionen gegen Russland gingen nach hinten los:
Erstens ist damit das geographische Osteuropa (Weißrussland und der europäische Teil Russlands) wirtschaftlich von der EU getrennt worden und orientierte sich stärker nach China und Indien … bleibt in Osteuropa noch die Restukraine, ein Pleitestaat.
Zweitens schwächte sich die EU damit selber wirtschaftlich und welche lukrative Zusammenarbeit will die EU denn anbieten, wenn sie selber gerade schwächelt?!
Und die Türkei taktiert zwischen USA und Russland, und zwar bisher recht erfolgreich, so dass die EU gerne bei der Türkei anfragen kann, vielleicht geht ja was, wenn das Gas als “türkisches Gas” etikettiert wird. :-^
Da können die Eurokraten tolle Strategiepapiere schreiben …
„Russland [sei] eine Tankstelle, die sich als Land ausgibt“ (“Russia is a ‘gas station masquerading as a country”) sagte der bereits hingeschiedene ‘war monger’ (Kriegshetzer) John McCain, der ein Paradebeispiel und Beweis dafür war, dass die USA ein ‘military-industrial complex’ ist, der sich als Land ausgibt …