Neue Höchstkurse an den US-Börsen: Wird alles immer besser?

18. Dezember 2023von 9,7 Minuten Lesezeit

Mitte Dezember erreichten der Dow-Jones1– und der Nasdaq 1002– Aktienindex neue historische Höchststände. Auch die Aktien im DAX sind seit letzter Woche so teuer wie noch nie.3 Statt einen „perfect storm“, ein Szenario für einen perfekten Börsen- und Wirtschaftsabsturz anzuzeigen, stehen alle Zeichen auf „clear skies“ oder „plain sailing“ in den USA: Die Inflationsrate sinkt, die langfristigen Zinsen gehen im Gleichklang zurück.

Die Arbeitslosigkeit steigt kaum, die Wirtschaft wächst stabil trotz der enormen Zinsanhebungen der Notenbank in den letzten zwei Jahren. Kurz: Alle Signale deuten auf einen neuen Höhenflug der US-Aktienmärkte. Also alles gut? Aktien gut, alles gut? Wird alles immer besser? Geht es den Menschen immer besser? Ein Blick hinter die Kulissen zeigt eher das Gegenteil.

Rekordhohe Obdachlosigkeit in den USA

Praktisch zeitgleich mit den Nachrichten über neue Rekordkurse bei Aktien wurde über einen neuen Rekordwert an Obdachlosen in den USA berichtet.4 Laut Wall Street Journal gab es 2022 den größten Zuwachs an Obdachlosigkeit seit Beginn der Aufzeichnungen 2007. Die Zahl der homeless people stieg demnach 2022 um 12% auf den neuen Rekord von 653.000 Menschen. Das entspricht etwa der Einwohnerzahl von Stuttgart oder Düsseldorf.5 Die offiziellen Zahlen gelten nach allgemeiner Einschätzung als zu niedrig. Die sehr hohen Unternehmensgewinne6, die sich in rekordhohen Aktienkursen niederschlagen, scheinen nicht allen Einwohnern in den USA zu Gute zu kommen.

Junge Familien können sich so schlecht Immobilien leisten wie noch nie in der jüngeren US-Geschichte

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Ebenfalls fast zeitgleich mit den neuen Aktienkursrekorden wurde im Wall Street Journal berichtet, dass es in der jüngeren Geschichte der USA noch nie so schwer war, sich ein Eigenheim zu leisten.7 Die Hauspreise seien so stark gestiegen und die Zinsen so hoch, dass derzeit deutlich weniger Erstkäufer, etwa 33% statt wie in der Vergangenheit 38%, sich die eigenen vier Wände leisten könnten. Das Durchschnittsalter der Erstkäufer sei deutlich gestiegen. Also auch bei jungen Familien, die sich nach einem Eigenheim sehnen, scheint der Aktienboom nicht anzukommen, im Gegenteil.

Höchste Selbstmordrate in den USA seit 1941

Ende November berichtete das Wall Street Journal unter dem Titel „US-Selbstmorde erreichten letztes Jahr neuen Höchststand“, dass sich 2022 beinahe 50.000 Menschen in den USA das Leben genommen hätten.8 Das entspreche der höchsten Selbstmordquote seit 1941.

Als Hauptgründe werden zu wenig Beschäftigte im Sozialbereich, leichter Zugang zu Drogen und die weitverbreiteten Schusswaffen genannt. Ein Psychologe wird mit den Worten zitiert: „Es gab einen Bruch in unserem Wirtschafts- und Sozialgewebe.“9 Wie verzweifelt müssen Menschen sein, die sich selbst töten? Also auch bei dieser tragischen Menschengruppe scheinen die Börsenrekorde nicht anzukommen.

Neuer Rekord bei Drogentoten in den USA

Im Mai berichtete das Wall Street Journal, dass es 2022 in den USA einen neuen Rekord an Drogentoten gegeben habe. 2022 betrug demnach die Zahl mit knapp 110.000 Drogentoten so viele wie noch nie. Zum Vergleich: Im Vietnamkrieg starben 58.220 US-Soldaten.10 Damit hat sich die Zahl der Drogentoten in den USA seit 2015 mehr als verdoppelt.11 Im gleichen Zeitraum (von 2015 bis 2022) haben sich auch die Aktienkurse des S&P 500 in etwa verdoppelt.12 Aktiengewinne scheinen den armen drogenabhängigen Menschen wenig zu nützen.

Ladendiebstähle und -einbrüche nehmen dramatisch zu

Immer wieder veröffentlicht das Wall Street Journal Artikel über stark zunehmende Einbrüche und Ladendiebstähle. Anfang Oktober schrieb die Wirtschaftszeitung, dass 2022 die „shrink losses“, zu denen vor allem Ladendiebstähle und Einbrüche beitragen, um fast 20% auf 112 Milliarden Dollar gestiegen seien.13 Mehr als zwei Drittel aller Einzelhandelsunternehmen sagen demnach, dass die Ladendiebstähle aggressiver und gewalttätiger würden.

In jüngerer Zeit zeichne sich ein neuer Trend ab: „ram riding“ – („Bockreiten“): „Ein neuer Verbrechenstrend crasht – buchstäblich – in amerikanische Einzelhandelsläden. Einbrecher benutzen gestohlene Autos, um durch Schaufenster zu brechen und plündern dann Geldautomaten und andere Wertsachen.14 Die zunehmenden Einbrüche führten dazu, dass in manchen Wohngegenden teilweise nicht einmal mehr Lebensmittelläden existieren, weil sich die Einzelhändler wegen der Kriminalitätsgefahr aus manchen Vierteln komplett zurückziehen.

Die steigenden Aktienkurse scheinen also auch nicht gerade die Moral im Land zu heben.

Frustration in der amerikanischen Bevölkerung

Fassen wir zusammen: Trotz seit 2009 fast ununterbrochen steigender Aktienkurse nehmen in den USA Obdachlosigkeit, Selbstmorde, Drogentote, Ladendiebstähle ständig und teilweise dramatisch zu und junge Familien können sich immer schlechter ein eigenes Haus leisten.

Kein Wunder daher, dass nur mehr 36% der US-Amerikaner derzeit sagen, dass der „amerikanische Traum“ noch zutrifft, der Traum vom Tellerwäscher zu Millionär, der Traum: „Jeder, der hart arbeitet, kann vorankommen, unabhängig von der Herkunft.15 Kein Wunder daher auch, dass die Hälfte der in den USA lebenden Menschen meint, dass das Leben in den USA heute schlechter ist als vor 50 Jahren, während nur 30% glauben, es sei besser als vor 50 Jahren.

In der unteren Hälfte der Bevölkerung kommt immer weniger an

Wie kann das sein? Warum nehmen Elend, Leid und Kriminalität ständig zu, obwohl die Aktienvermögen immer größer werden? Die Frage ist relativ einfach zu beantworten: Weil von den zunehmenden Vermögen, ja selbst von dem offiziell ständig steigenden Sozialprodukt bei sehr vielen Menschen wenig oder nichts ankommt. Denn die Schere der Ungleichverteilung geht ständig weiter auf: In den USA nimmt die Ungleichverteilung seit vielen Jahrzehnten, mindestens seit 1971, zu.16

Laut offiziellen Angaben der US-Regierung verdiente beispielsweise 2021 ein männlicher Vollzeitarbeitnehmer, der das ganze Jahr über arbeitet und über 15 Jahre alt ist, mit 61.180 Dollar Median-Jahresverdienst inflationsbereinigt, also real, praktisch genau so viel wie 1974.17 Männliche Arbeiter in den USA hatten also in den letzten 47 Jahren laut amtlicher Statistik real keinen Cent Lohnerhöhung.

Nach Angaben der US-Notenbank stieg das reale BIP pro Kopf in den USA von 1973 bis 2022 um 127,5%.18 Die realen Median-Haushaltseinkommen erhöhten sich im selben Zeitraum laut US-Regierung jedoch lediglich um 18,4%.19 Mit anderen Worten: Der Großteil des Wirtschaftswachstums der letzten 50 Jahre kam nicht in der Mitte der Bevölkerung, geschweige denn in der unteren Hälfte an, sondern floss nach oben. Kein Wunder, dass viele amerikanische Menschen den Eindruck haben, auf der Strecke zu bleiben oder sich betrogen fühlen um den amerikanischen Traum.

Auch in Deutschland steigt die Ungleichverteilung seit Jahrzehnten. Laut dem jüngsten Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung von Anfang November 2023 hat die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland von 2010 bis 2022 zugenommen. Das Ergebnis der gewerkschaftsnahen Wissenschaftler lautet: „Das eindeutige Fazit zu den Armutsquoten: Seit Jahren wächst der Anteil der Personen, die von Armut betroffen sind.“20

Unproduktive, sinnlose, ineffiziente oder rein konservierende Arbeit nimmt dramatisch zu

Dazu kommt, dass ein großer Teil des offiziell ausgewiesenen Wirtschaftswachstums der letzten Jahrzehnte in Wirklichkeit den Wohlstand in keiner Weise erhöht hat, im Gegenteil. In den USA stieg beispielsweise der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 5 Prozent 1960 auf 18,3 Prozent 2021, in Deutschland von 10 Prozent 1997 auf 13,2 Prozent 2021.21 Derzeit werden in Deutschland (in einer erweiterten Abgrenzung des Bundesgesundheitsministeriums)22 und in den USA mindestens ein Sechstel der gesamten Wirtschaftskraft für Gesundheitsaufwendungen ausgegeben.

So wichtig und segensreich diese Tätigkeiten oft sind, die von den Beschäftigten in meist hingebungsvoller Arbeit ausgeführt werden, so erhöhen sie jedoch in keiner Weise unseren realen Wohlstand. Im Gegenteil. Man versucht dadurch, einen Zustand – Gesundheit – wiederherzustellen, der früher, als die Menschen sehr viel weniger von Zivilisationskrankheiten betroffen waren, von alleine da war. Je kranker wir werden, desto ärmer werden wir.

Andere Beispiele für unproduktive Tätigkeiten sind Werbung, Steuerberatung, Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte, Sicherheitsdienste, Sicherheitsprodukte usw. usw. Die Beschäftigten in diesen Bereichen haben sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht.23 So wichtig manche dieser Tätigkeiten auch sein mögen – mit Ausnahme von Werbung, Werbung ist volkswirtschaftlich gesehen de facto vollkommen unsinnig24 – und so hingebungsvoll und aufrichtig viele Menschen in diesen Branchen auch arbeiten, sie alle haben eines gemeinsam: sie erhöhen nicht unseren realen Wohlstand, sondern vermindern ihn.

Daran ändern auch steigende Aktienkurse nichts.

Fazit

Trotz neuer Kursrekorde an der Wallstreet, trotz neuer Aktienhöchststände geht es sehr vielen Menschen in den USA nicht wirklich besser. Das Gleiche gilt für Deutschland. Im Gegenteil weisen viele Indikatoren darauf hin, dass Armut, Leid und Elend bei vielen Menschen in den USA zunehmen. Denn die Aktiengewinne fließen an eine kleine Oberschicht.

Beim Großteil der Bevölkerung kommt davon nichts an. Das trifft auch auf das Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte zu. Börsengewinne und das offiziell ausgewiesene Wirtschaftswachstum lösen sich immer weiter ab von der Alltagsrealität der Menschen. Der US-amerikanische Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz beantwortete die Frage, wem die gängigen ökonomischen Theorien und die daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Regeln nützen bereits 2012 vergleichsweise einfach: „Of the 1 %, for the 1 %, by the 1 %“25 – den wohlhabendsten 1 % der Gesellschaft.

Referenzen

7 Wall Street Journal 11.Dez.2023: https://www.wsj.com/finance/home-ownership-mortgage-interest-rates-122a272f: „It is now less affordable than any time in recent history to buy a home“

9 There was a rupture in our economic health and social fabric“

15 WSJ 24.11.23: Voters See American Dream Slipping Out of Reach, WSJ/NORC Poll Shows

Fewer believe that anyone who works hard can get ahead

https://www.wsj.com/us-news/american-dream-out-of-reach-poll-3b774892?mod=hp_lead_pos1

23 Vgl. Kreiß, Christian, Das Ende des Wirtschaftswachstums – die ökonomischen und sozialen Folgen mangelnder Ethik und Moral, tredition, Hamburg

24 Vgl. Kreiß, Christian, Werbung nein danke – Wie wir ohne Werbung viel besser leben könnten, Europa Verlag, München und Berlin 2016

25 Stiglitz, Joseph (2012): The Price of Inequality, London, S. xi. In Anspielung auf die Rede von Abraham Lincoln von 1863; „the government of the people, for the people, by the people“: https://en.wikipedia.org/wiki/Gettysburg_Address

Bild: Bain News Service, publisher, Public domain, via Wikimedia Commons

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wieder. Rechte und inhaltliche Verantwortung liegen beim Autor.

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Homepage http://www.menschengerechtewirtschaft.de

Aktuellestes Buch: Das Ende des Wirtschaftswachstums – Die ökonomischen und sozialen Folgen mangelnder Ethik und Moral,


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3 Kommentare

  1. lbrecht torz 21. Dezember 2023 at 12:28Antworten

    Hier wird doch beschreiben wie die Kennzahlen völlig falsche Bilder vermitteln:

    „Also alles gut? Aktien gut, alles gut? Wird alles immer besser? Geht es den Menschen immer besser? Ein Blick hinter die Kulissen zeigt eher das Gegenteil.“
    und
    „Unproduktive, sinnlose, ineffiziente oder rein konservierende Arbeit nimmt dramatisch zu“

    Und im Nachbarartikel ()https://tkp.at/2023/12/20/oesterreich-steckt-in-weltweit-einmaliger-rezession/

    wird gleichzeitig aufgrund von solchen falschen Kennzahlen „Alarm, Alarm“ gerufen.

    Warum kann man denn nicht einen einmal gefassten Wissensstand beibehalten und von da aus fortschreiben – anstatt immer wieder und wieder in längst entlarvtes falsches Denken immer wieder zurück zu fallen?

    Liegt es am Internet? Ist man im Internet, im Digitalen, einfach prinzipiell nicht in der Lage, folgerichtig und auf zuvor Gesichertes aufbauend zu denken, weiter zu denken? Denkfortschritt und Internet – zwei sich ausschließende Antagonismen?

  2. Fritz Madersbacher 19. Dezember 2023 at 16:29Antworten

    „… die Aktiengewinne fließen an eine kleine Oberschicht. Beim Großteil der Bevölkerung kommt davon nichts an“
    Wie gehabt. Sie verdanken sich – noch – zu einem hohen Anteil der Auslagerung der Produktion in „ferne“ („Billiglohn“-)Länder und der Ausplünderung über die Welt verstreuter Rohstoffe. Aber die „globale Mehrheit“ spielt dieses Spiel immer weniger mit …

    • A-w-n-3 19. Dezember 2023 at 20:22Antworten

      Danke Herr Fritz M für das ausgesuchte Zitat. Jetzt versuchen wir doch mal wieder Faktenrealität und Gesinnung zu unterscheiden. Da wird nämlich von der alternativen Möchtegern-Intelligentsija (ich meine hauptsächlich die Autoren, aber dann auch die Papageien) so manche Pauschalannahme unhinterfragt permanent wiederholt. Da die Milliardäre so viel wie möglich sich Werte wie Immobilien, Farmland, Kunst aneignen sowie in nicht börsennotierte Titel zB via Private Equity und Beteiligungen, wieviel ausser ihren Aktienpaketen an eigenen Firmen aus denen sie nicht aussteigen können haben diese denn im Aktienmarkt stecken und wieviele und wieviel insb. in den USA und GB sind zur Altersvorsorge dort investiert? Da werden alternative Autoren schnell kleinlaut, Pauschalurteile der Leserschaft zu bedienen ist einfacher. Und man kommt auch nicht ganz leicht an Infos. Aber zB usafacts.org schreibt unter ‚What percentage of Americans own Stock?‘ – 53% aller Familien hat Aktien. Innerhalb dessen sieht man auch die Verteilung, Weisse und Gutverdiener gehört mit Abstand das meiste. Aber rechnet man die Altersvorsorge, Pensionsfonds etc dann wird diesen ein grosser Anteil der Aktien gehören, einem völlig überbewerteten Casino übrigens, das auch durch Gelddrucken aufgepauscht und gestützt wurde. But the show must go on…wenn dann wieder in den alternativen Medien von Blackrock & Co die Rede ist, wessen Geld ist denn das? Die sind ja Fondsverwalter, warum sollen Superreiche deren Fondsgebühren zahlen? Aha, dann sind es die Gelder der privaten Altersvorsorge und Pensionskassen, oder?

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