Top Medizin Wissenschaftler John Ioannidis zieht Corona Bilanz

13. Oktober 2020von 5,9 Minuten Lesezeit

Der weltweit führende Medizin-Wissenschaftler Stanford Professor John Ioannidis hat sich wieder mit einem Artikel zu Wort gemeldet, diesmal um European Journal of Clinical Investigation. Veröffentlicht in der Wiley Online Library. Ioannidis war der Erste, der Mitte März schon eine korrekte Abschätzung der Infektionssterblichkeit IFR vorgelegt hatte – damals 0,125% – die jetzt auch durch die WHO Zahlen bestätigt wurde. Er gibt nun einen Überblick über das bisherige Wissen und was wir weiterhin erwarten können.

Jetzt im Oktober 2020 gibt es mehr als 1 Million dokumentierte Todesfälle mit COVID-19. Weitere Todesfälle können sowohl durch COVID-19 als auch durch die ergriffenen Maßnahmen verursacht werden. Ioannidis betont nochmals, dass COVID-19 eine extrem starke Abhängigkeit des Risikos vom Alter zeigt sowie von sozioökonomischen und klinischen Faktoren.

Die Berechnung der verlorenen Lebensjahre, eine wichtige Kenngröße für jegliche Public Health Bewertung, von COVID-19 ist methodisch anspruchsvoll und kann zu irreführenden Überschätzungen führen. Viele früheren Todesfälle könnten auf ein suboptimales Management und ein schlecht funktionierendes Gesundheitssystem zurückzuführen sein sowie die Einweisung von COVID-19-Patienten in Pflegeheime und nosokomiale Infektionen in Spitälern. Solche Todesfälle sollten in Zukunft zumindest teilweise vermeidbar sein.

Auch Ioannidis errechnet wie die WHO aus bisher durchgeführten Antikörper- und Infektionsstudien, dass im Oktober 2020 bereits etwa 10% der Weltbevölkerung eine Infektion hinter sich gebracht hat. Die globale Sterblichkeitsrate bei Infektionen liegt bei 0,15-0,20 Prozent bei den unter 70-jährigen aber nur bei 0,03-0,04 Prozent, wobei die Variabilität zwischen Orten mit unterschiedlicher Altersstruktur, Alters- und Pflegeheimplätzen, sozioökonomischen Ungleichheiten, klinisches Risikoprofil auf Bevölkerungsebene, Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Gesundheitsversorgung recht groß sein kann.

In Österreich betrafen 49,3% der Todesfälle Menschen über 84 Jahren, sowie 24,7% die Altersgruppe 75 bis 84 Jahre. Somit kommen bisher fast drei Viertel der Todesfälle Menschen über 74 Jahren.

Frage der Herdenimmunität

Ein Punkt sehr kontroverser Ansichten ist der Prozentsatz ab dem Herdenimmunität erreicht ist. Insbesondere die Impfstoffproduzenten vertreten die Auffassung, dass mindestens 60% der Weltbevölkerung infiziert sein müssen, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Unter den unabhängigen Wissenschaftlern werden aber weit geringere Werte angenommen, da durch die Faktoren Heterogenität der sozialen Kontakte und bereits bestehender Kreuzimmunität wesentlich niedrigere Schwellenwerte zu erwarten sind.

Für die über einen 5-Jahres Zyklus zu erwartende Sterblichkeit werden Simulationen mit insgesamt 1,58-8,76 Millionen COVID-19 Todesfällen über 5 Jahre vorgestellt. Laut Ioannidis sind die günstigsten Zahlen in diesem Bereich machbar, wenn Hochrisikogruppen bevorzugt geschützt werden und dadurch niedrigere Infektionsraten als für die übrige Bevölkerung erreicht werden. Die Zahl der Todesopfer kann auch reduziert werden durch die potenzielle Verfügbarkeit von wirksamen Impfstoffen und Behandlungen, optimales Management der ergriffenen Maßnahmen, Zusammenspiel von COVID-19 mit Influenza und anderen Gesundheitsproblemen, das Potenzial von Reinfektionen und alle chronischen COVID-19-Folgen.

Ein gezieltes, präzises Management der Pandemie und die Vermeidung von Fehlern in der Vergangenheit würden dazu beitragen die Sterblichkeit zu minimieren.

Regional unterschiedliche Verhältnisse und Bedingungen

Die Todesraten sind pro Land recht unterschiedlich. Immerhin 66 Länder haben Todesraten von weniger als 1 Sterbefall pro 100.000 Einwohner, während 17 Länder über 50 kommen. Besonders niedrig sind die Sterblichkeitszahlen in den pazifischen Ländern und den an China angrenzenden, wie die Grafik unterhalb zeigt.


Nach Ioannidis gibt es starke Beweise dafür, dass sich Arbeitslosigkeit, Depression, Finanzkrisen und soziale Isolierung negativ auf die langfristige Entwicklung von Krankheiten und Mortalität auswirken. Die gegenwärtige Situation mit einem noch nie dagewesenen Umfang und Stärke der Maßnahmen kann aber in ihren Auswirkungen noch nicht vollständig abgeschätzt werden.

Betrachtet man die Projektionen, so werden nach Ioannidis die zusätzlichen Todesfälle durch die getroffenen Maßnahmen wahrscheinlich viel größer sein als die COVID-19-Todesfälle. So wird allein die Unterbrechung der Tuberkuloseprogramme in den nächsten 5 Jahren voraussichtlich 1,4 Millionen zusätzliche Todesfälle verursachen, und die Zahl der Todesfälle durch Hungersnöte kann noch erschütternder sein. Die genauen Auswirkungen dieser großen Probleme haben jedoch sehr große Unsicherheit und einige Hochrechnungen können übertrieben sein.

Wie groß die Zahl von zusätzlichen Todesopfern sein wird, wird wahrscheinlich davon abhängen, ob wir in der Lage sind, diese Probleme frühzeitig anzugehen und Lockdowns und andere unvernünftige Maßnahmen zu vermeiden.

Covid trifft sozial und ethnisch sehr unterschiedlich

Covid-19 bringt auch Ungleichheiten stärker hervor. So sind im UK und in den USA große Unterschiede zwischen der weißen Bevölkerung einerseits und Menschen mit dunkler Hautfarbe festzustellen. Bei letzteren liegt das mittlere Todesalter um 7 bis 11 Jahren unter der durchschnittlichen Lebenserwartung, bei ersteren um etwa zwei Jahre darüber. In Europa liegt das mittlere Alter bei den Covid Todesfällen im Bereich der durchschnittlichen Lebenserwartung oder ebenfalls um bis zu zwei Jahre darüber.

Männer haben ein etwa doppeltes Sterblichkeitsrisiko wie Frauen. Deutliche Erhöhung des Risikos (1,5 bis 5-fach) kommt neben sozialen Faktoren von Fettleibigkeit, unbehandelter Diabetes, Lungenerkrankung, Leberversagen, Nierenversagen, Blutkrankheiten und kürzlich behandeltem Krebs. Es besteht kein erhöhtes Risiko für Bluthochdruck oder eine länger zurückliegende Krebsvorgeschichte und nur ein geringe Erhöhung (weniger als 1,5-fach) bei Asthma, chronischen Herzkrankheiten, leichter Adipositas und Krebs vor 1-5 Jahren. Weiter untersucht werden müssen Risiken von vorigen Impfungen, Luftverschmutzung, Infektionen mit anderen Coronaviren und die Größe der Virenlast bei der Infektion.

Vor Lockdowns warnt Ioannidis noch eindeutiger als mittlerweile auch die WHO: „Umgekehrt können hochgradig störende Maßnahmen (z.B. Lockdowns) Ressourcen abziehen und die Reaktion auf die Pandemie erschweren, abgesehen von allen anderen schwerwiegenden negativen Auswirkungen, die sie auf andere Gesundheitsprobleme und die Gesellschaft im Allgemeinen haben können.“

Abschließend warnt Ioannidis nochmals vor unüberlegten Maßnahmen:

Schließlich können sowohl COVID-19 als auch die Maßnahmen (insbesondere wenn sie zu aggressiv sind) das Leben, die Wirtschaft, die Zivilisation und die Gesellschaft im Allgemeinen zerstören. Eine katastrophale Auswirkung auf die psychische Gesundheit ist bereits gut dokumentiert. Katastrophaler sozialer Zusammenbruch und chaotische Ereignisse wie Unruhen, Kriege und Revolutionen haben eine unvorhersehbare Dynamik, aber wenn sie stattfinden, können sie verheerend sein. Viele Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie ergriffen werden, können ernsthaft destabilisierend wirken und führen zu Hunderten von Millionen Menschen am Rande des Verhungerns, einer sprunghaft ansteigenden Arbeitslosigkeit und des daraus resultierenden Auftretens anderer infektiöser Krankheiten wie Tuberkulose und Kinderkrankheiten durch gestörte Impfpläne. Wir müssen lernen mit COVID-19 zu leben und wirksame, präzise, am wenigsten störende Maßnahmen anzuwenden. Damit können solche Katastrophen vermieden werden und es trägt dazu bei, die negativen Auswirkungen der Pandemie zu minimieren.“

Update 14.10.2020, 10:30:

Die Studie wurde in einer ausführlicheren Variante  mittlerweile auch von der WHO publiziert.

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