Das Wirtschaftswachstum schwächelt – Sind die guten Zeiten jetzt vorbei?

29. August 2023von 8,2 Minuten Lesezeit

Die schlechten Konjunkturdaten zu Deutschland wollen nicht abreißen. Am 25.August meldete das Münchner ifo-Institut, dass sich die Stimmung in der deutschen Wirtschaft weiter eingetrübt habe. Sie sei nun vier Monate in Folge zurückgegangen. Die Einschätzung der aktuellen Lage werde von den Chefetagen der deutschen Wirtschaft nun so schlecht eingeschätzt wie zuletzt im August 2020. Der Pessimismus habe in den Unternehmen zugenommen, „die Durststrecke der deutschen Wirtschaft verlängert sich.“2

Der vorliegende Aufsatz gibt zum großen Teil Aussagen des Buches: „Das Ende des Wirtschaftswachstums“ wieder, das gerade erschienen ist.1

Das reale deutsche Sozialprodukt lag im zweiten Quartal 2023 leicht unter dem Wert vom ersten Quartal 2022. Seit fünf Quartalen stagniert also die deutsche Wirtschaft.3 Für das Gesamtjahr 2023 wird von Experten eine leichte Wirtschaftsschrumpfung von 0,3 Prozent erwartet, für 2024 ein reales Wachstum von 1,2 Prozent.4 Der Euroraum soll 2023 um 0,9 und 2024 um 1,5 Prozent wachsen5, die Weltwirtschaft um 2,1 Prozent 2023 und 2,4 Prozent 2024.6 Wird bald wieder alles gut? Kommt bald wieder das langjährige Wirtschaftswachstum?

Das Ende des Wirtschaftswachstums

Nein. Die Zeiten ständigen realen Wirtschaftswachstums dürften in den meisten Industrieländern und einigen Entwicklungsländern vorbei sein. Wir sind schon längst in einer säkularen Wende. Für den Großteil der Bevölkerung dürfte es künftig kaum mehr reales, wohlfahrtssteigerndes Wirtschaftswachstum geben, vermutlich sogar eine Schrumpfung. In einigen Industrie- und Entwicklungsländern ist dies bereits seit etwa 10 bis 20 Jahren für einen Großteil der Bevölkerung der Fall, beispielsweise in Großbritannien, Italien, Brasilien, Südafrika, Japan, Mexiko, Deutschland und den USA und sicher auch in einigen anderen Ländern.7

Gründe

Im Wesentlichen gibt es dafür drei Gründe: erstens abnehmende Gesundheit, vor allem wegen zunehmender Zivilisationskrankheiten und steigender Umweltbelastungen, zweitens zunehmende Ungleichverteilung sowie drittens sinkende Moral- und Ethikstandards beziehungsweise abnehmendes Vertrauen.

Gesundheit und Umwelt

Ein Blick auf die Entwicklung der Zivilisationskrankheiten in den letzten Jahrzehnten sowie insbesondere auf die Gesundheit unserer Kinder zeigt uns erschreckend, wie stark chronische Krankheiten auf dem Vormarsch sind, wie sehr die Resilienz, die körperliche und geistig-seelische Widerstandskraft der Menschen abnimmt. Dadurch müssen wir immer mehr Ressourcen dafür aufwenden, gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden.

In Deutschland stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP von 10 Prozent 1997 auf 13,2 Prozent 2021, in den USA von 5 Prozent 1960 auf 18,3 Prozent 20218. Das Bundesgesundheitsministerium führt aus, dass in Deutschland in einer erweiterten Abgrenzung derzeit etwa 7,7 Millionen Beschäftigte oder etwa jeder sechste Erwerbstätige im Gesundheitswesen arbeiten.9

Was heißt das? Je mehr Zeit, Geld und Kraft wir für den Gesundheitssektor aufwenden müssen, um unsere Gesundheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, desto geringer wird unser realer Wohlstand. Das gleiche gilt für unsere Umwelt und das Klima. Je mehr Ressourcen wir aufwenden müssen, um eine gesunde Umwelt wiederherzustellen und schädliche Klimaauswirkungen abzuwenden, desto mehr vermindert sich unser realer Wohlstand. Ein Großteil des Zuwachses an Gesundheitsausgaben der letzten Jahrzehnte hat letztlich nicht unseren Wohlstand erhöht, sondern vermindert.

Ungleichverteilung

Laut einem Artikel der sehr einflussreichen, konservativen Brookings Institution von Mai 2023 steigt die Ungleichverteilung auf der Erde seit etwa 1980 in fast allen Ländern an.10 Die Ungleichverteilung sei heute ähnlich hoch wie zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Besonders bei den top 10% und noch stärker den top 1% sei der Einkommenszuwachs stark gestiegen. Das sei Hand in Hand gegangen mit Verlusten bei den unteren 50%, habe zu einer Erosion der Mittelklasse und zu einer größeren Polarisierung in der Einkommensverteilung geführt. Die Vermögensverteilung sei noch deutlich ungleicher als die Einkommensverteilung.

Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt das World Economic Forum (WEF) von Davos in einer Analyse von Januar 2023.11 Es lohnt sich, einige Passagen der WEF-Analyse im Wortlaut zu lesen:

„Die globale Ungleichheit hat sich verschlimmert, und das reichste 1% verfügt über fast zwei Drittel der 42 Billionen Dollar, die seit 2020 neu geschaffen wurden. Ungleichheit zerstört die Gesellschaft, und das ist nicht unvermeidlich; es ist eine Entscheidung, die zeigt, dass es uns sowohl an Empathie als auch an Vorstellungskraft mangelt. […]

Ungleichheit ist die Anhäufung von Reichtum und Macht in wenigen Händen. Sie hat unsere Politik und Medien korrumpiert und polarisiert. Sie zersetzt unsere Demokratien. Sie vergrößert die Kluft zwischen Rassen und Geschlechtern. Sie treibt die unablässige Ausbeutung und Monetarisierung unserer natürlichen Ressourcen voran und treibt Konflikte und den Klimawandel voran. […]

Arme Länder sind mittlerweile so stark verschuldet, auch bei räuberischen („predatory“) privaten Kreditgebern, dass sie viermal mehr für die Schuldentilgung als für die Gesundheitsversorgung ausgeben müssen.“

Als Ursachen nennt das World Economic Forum (WEF) Davos folgende Faktoren:

„Wir können nur zu dem Schluss kommen, dass die Elite die Regeln setzt und ihre Funktionäre darum kämpfen, sie in ihren Interessen zu manipulieren, insbesondere in Bezug auf Steuern, Arbeitsrechte, Monopole und geistiges Eigentum; zu Bodenkontrolle, Planungs- und Abbaurechten und Gewerkschaftsbekämpfung. Eigentlich alles, was dazu dient, die Gewinne zu maximieren, die Kontrolle zu festigen, die Kosten zu minimieren und das Risiko auf andere abzuwälzen. Alles, was Verantwortung und abweichende Meinungen zunichtemacht. Sie verkaufen uns die Geschichte, dass dieser Reichtum irgendwie zu allen „herabrieselt“ („trickling down“). Sie propagieren „Sparmaßnahmen“ („austerity“) als unvermeidliches Heilmittel.“

Bei einem großen Teil der Bevölkerung, der ärmeren Hälfte oder gar den unteren 80 Prozent kommt von dem offiziellen Wirtschaftswachstum daher schon seit Jahren oder Jahrzehnten wenig oder nichts an. Für breite Bevölkerungskreise hat in einigen Ländern schon vor vielen Jahren das Ende des Wirtschaftswachstums stattgefunden.

Sinkende Moral- und Ethikstandards

Moral- und Ethikstandards sind äußerst schwer empirisch zu messen, deshalb kann man versuchen, ihre Entwicklung über einige Indikatoren abzuschätzen.

Die Ausgaben für Überwachung und Security nehmen in vielen Ländern in den letzten Jahrzehnten dramatisch zu. In Deutschland hat sich der Umsatz von Wach- und Sicherheitsunternehmen von 2,4 Milliarden Euro 1995 auf 9,85 Milliarden 2021 mehr als vervierfacht.12 Wann muss man mehr überwachen und mehr Security-Personal einstellen? Sicherlich nicht, wenn die Menschen immer anständiger und ehrlicher werden.

Ähnliches gilt für die Arbeit von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern, deren Zahl sich in Deutschland in der Nachkriegszeit vervielfacht hat: 1) Die Zahl der Steuerberater in der deutschen Bundessteuerberaterkammer hat sich von 1962 bis 2022 von knapp 24.000 auf 89.800, also um 275 Prozent erhöht.13 2) 1961 gab es in Deutschland 1.590 Wirtschaftsprüfer, 2022 waren es 14.653.14 Zwischen 1961 und 2022 hat sich die Zahl der Wirtschaftsprüfer um über 820 Prozent erhöht, es gibt heute 9,2-Mal so viele wie vor 60 Jahren. 3) 1950 gab es in Deutschland 12.800 zugelassene Rechtanwälte, heute gibt es 165.587.15 Von 1950 bis heute ist die Zahl der Rechtsanwälte um etwa 1.200 Prozent gewachsen, ihre Verbreitung hat sich beinahe ver-13-facht.

Je geringer das Vertrauen, je stärker der Egoismus und je geringer der Altruismus in einer Gesellschaft wird, desto mehr solcher Tätigkeiten brauchen wir. Diese drei Berufsgruppen bewirken keine reale gesellschaftliche Wertschöpfung, führen zu keiner gesamtwirtschaftlichen Nutzenerhöhung, sie erhöhen daher nicht den realen Wohlstand, im Gegenteil.

Bürokratie, Zertifizierungen, Akkreditierungen usw. haben in den letzten Jahrzehnten in fast allen Branchen dramatisch zugenommen, die Klagen darüber quer durch das ganze Gesellschaftsspektrum sind ausführlich und lang. Wann muss man mehr und gründlicher verwalten, zertifizieren, kontrollieren, akkreditieren usw.? Sicherlich nicht, wenn das Vertrauen zunimmt, wenn Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, wenn Treu und Glauben zunehmen. Deshalb dürfte die starke Ausbreitung dieser Tätigkeiten ein Indikator für abnehmende Ethik sein.

Fazit

Zunehmende Zivilisationskrankheiten bewirken, dass wir immer mehr Ressourcen, Arbeit und Kapital dafür verwenden müssen, unsere Gesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen, anstatt neue, zusätzliche Güter oder Dienstleistungen herzustellen. Abnehmende Moralstandards führen dazu, dass wir immer mehr Kontroll-, Überwachungs- und Bürokratieaufwand brauchen, der keinen Wohlstand schafft, sondern nur immer mehr Ressourcen unproduktiv aufsaugt. Die seit Jahrzehnten steigende Ungleichverteilung sorgt dafür, dass von einem etwaigen realen Wirtschaftswachstum wenig oder nichts bei dem unteren Teil der Bevölkerung ankommt.

Daher sind die Zeiten ständigen realen Wirtschaftswachstums in vielen Industrieländern und einigen Entwicklungsländern für den Großteil der Bevölkerung vermutlich schon lange vorbei. Und auch künftig dürfte es kaum mehr reales, wohlfahrtssteigerndes Wirtschaftswachstum in vielen Ländern für den Großteil der Bevölkerung geben, vermutlich sogar eine Schrumpfung.

Das Ende des Wirtschaftswachstums: Die ökonomischen und sozialen Folgen mangelnder Ethik und Moral

15 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37293/umfrage/entwicklung-der-zahl-zugelassener-rechtsanwaelte/


Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wieder. Rechte und inhaltliche Verantwortung liegen beim Autor.

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Homepage http://www.menschengerechtewirtschaft.de


Unsere Arbeit ist spendenfinanziert – wir bitten um Unterstützung.

Folge TKP auf Telegram und GETTR


12 Kommentare

  1. lbrecht torz 1. September 2023 at 11:13Antworten

    Anscheinend darf ich bei Kreiß nicht kommentieren – weiß Gott warum.

  2. Heiko S 29. August 2023 at 16:05Antworten

    So viel Text, nur um konsequent am Problem vorbei zu schreiben. Aber die Moralkeule macht sich immer wieder gut, auch wenn sie völlig abgenutzt ist.
    Dabei ist es mal wieder so einfach und seit Mitte des 19.Jh. auch nachlesbar. Aber dann müsste man den Menschen erklären, dass der Kapitalismus an sein technologisches Ende kommt und nicht mehr so funktioniert, dass sich das Kapital eine bürgerliche Demokratie leisten kann. Schon Stalin hat den Faschismus als Zeichen der Schwäche des Kapitals erkannt. Wenn man natürlich den Kapitalismus schön finden muss, weil es die einzige Gott gegebene Gesellschaftsordnung sein darf, bleibt nur Moral und Ethik übrig.

    • Fritz Madersbacher 29. August 2023 at 21:00Antworten

      @Heiko S
      29. August 2023 at 16:05
      “… dass der Kapitalismus an sein technologisches Ende kommt”
      Er ruiniert à la longue die auf ihm beruhenden (Klassen-)Gesellschaften, sie bekommen – wie die “Pandemie”-Inszenierung schonungslos aufgedeckt hat – “wissenschaftlich/technologische”, politische, soziale Ver- und Zerfallserscheinungen mit größten Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben, die psychische Stabilität, die gesellschaftliche Gesamtperspektive. Das hat auch mit “Moral” und “Ethik” zu tun, allerdings wenig mit der Doppelmoral, die uns unter diesen Namen untergejubelt wird …

  3. Jurgen 29. August 2023 at 15:37Antworten

    Wirtschaftswachstum war schon immer eine Ente, weil Wachstum immer die Kehrseite der Inflation ist. Inflation bedeutet Umverteilung an diejenigen, die die echten Werte kennen und in diesen immerzu investiert sind. Zur Zeit gehören dazu weder Fiatwährungen noch Immobilien (zumindest nicht in Deutschland), da hier noch die größten Abschläge zu erwarten sind (70% und mehr). Edelmetalle stehen vor dem nächsten Sprung. Das ist so gewollt und wird von den Gaunern JPMorden auch bereits proklamiert. Dumm ist nur, dass das Endspiel begonnen hat und wer keine Edelmetalle besitzt, wird die Zeche zahlen in der Hyperinflation. Man schaue sich dazu nochmal den Goldpreis während der Weimarer Republik an, insbesondere den Schlußpart vor dem Kollaps…
    Und Nein, Bitcoin ist nicht die Antwort!

  4. 1150 29. August 2023 at 15:22Antworten

    von welchen “guten zeiten” für wen wird hier gesprochen?
    ist die abgaben und steuerquote noch zu gering, will man den neuen “zehent” einführen?
    90% abgaben, beiträge und steuern, 10% bleiben dem systemerhalter? oder anders gesagt,
    elf monate für andere arbeiten, einen monat als almosen bis auf weiters behalten dürfen?
    ist das so gemeint?

    • asisi1 5. September 2023 at 5:13Antworten

      Hier mal ein Beispiel für die “Guten Zeiten”!
      1974 war ich für 6 Monate “Brotfahrer”! Mein Einkommen damals als Junggeselle war 1.600 DM, Abzüge 25%, Benzin 44 Pfennig. Heute kostet Benzin, Dank Lumpen in der Regierung das zehnfache. Allerdings verdient man heute als Brotfahrer sicherlich nicht das zehnfache, es wären dann ca. 16.000 DM, also ca. 8.000 Euro!°

  5. Glass Steagall Act 29. August 2023 at 13:45Antworten

    Das Übel dieses Systems, also das WEF und Konsorten, beschreibt sich im zitierten Teil dieses Artikels selbst! Sie sind das eine Prozent, welches immer mehr Reichtum und Macht an sich bindet! Sie reden immer mit gespaltener Zunge und sprechen in geblümter Sprache, aber hinter der Fassade sitzt nur das Böse!

    • Fritz Madersbacher 29. August 2023 at 13:59Antworten

      @Glass Steagall Act
      29. August 2023 at 13:45
      Interessante Passage, erinnert an das Märchen vom Wolf und den sieben jungen Geißlein der Brüder Grimm …

  6. Hmm 29. August 2023 at 13:18Antworten

    Dass der Ausbau der Uberwachung aufgrund von sinkender Moral erfolgt ist echt ne steile These

  7. Fritz Madersbacher 29. August 2023 at 12:09Antworten

    Der Artikel, wahrscheinlich auch das Buch des Autors, bietet ein trauriges Fazit der letzten Jahrzehnte Kapitalismus …

  8. Kathreinerle 29. August 2023 at 11:43Antworten

    Putin war ein YGL und Orban auch. Dass Russland mit der Ukraine nicht fertig wird, glaube ich nicht. Dass der Untergang D.s nix mit den selbstschädigenden Sanktionen zu tun hat, glaube ich auch nicht.

    • Heiko S 29. August 2023 at 16:06Antworten

      Putin war nie beim WEF. Das wird gern zur Diffamierung selbigens benutzt. Orban war mit Merkel bei den Vorgängern, GLT. Putin will nicht mit der Ukraine “fertig” werden, weil er sie als Brudervolk sieht.

Regeln für Kommentare: Bitte bleibt respektvoll - keine Diffamierungen oder persönliche Angriffe, keine (Ab-)Wertungen. Keine Video-Links. Manche Kommentare werden erst nach Prüfung freigegeben, was gelegentlich länger dauern kann.

Aktuelle Beiträge