Sanfter Putsch in Moldawien–mit Ansage

25. Juni 2023von 9,9 Minuten Lesezeit

„Westliche Werte“ tauchen immer wieder auf, wenn es um die Durchsetzung eigener (?) Interessen geht, doch immer öfter sind diese wenig mehr als eine Verschleierungsaktion. Nun hat EU-Beitrittskandidat Moldova die größte Oppositionspartei verboten – und das Schweigen westlicher Politiker und Leitmedien ist kaum zu überhören.

Vorneweg: Moldova ist eines der ärmsten Länder Europas, befindet sich zwischen Rumänien und der Ukraine, verfügt über eine ausgesprochen multiethnische Bevölkerung und – nicht unähnlich zu Georgien oder der Ukraine – eine „abtrünnige“ Region, Transnistrien, die seit 1992 ein Kontingent russischer Friedenstruppen beherbergt.

Ich habe an anderer Stelle ausführlich über die Hintergründe zu Transnistrien berichtet, was wiederum angesichts des Konflikts in der benachbarten Ukraine von gesteigerter Bedeutung ist. Darüber hinaus sei an dieser Stelle auf das Eskalationspotenzial – und die daraus gesteigerte Bedeutung Moldawiens – für die Machthaber in Kiew und deren Auftraggeber in Washington und Brüssel (Mons)  hingewiesen: russische Truppen sind vor Ort, die ukrainische Armee steht auf derselben Seite des Dnjestr – und es gab letztes Jahr eine Reihe von Provokationen vonseiten Kiews, vermutlich um den Konflikt gleichsam durch die moldawische Hintertüre auszuweiten.

Moldova führt also ein recht unglückliches Dasein zwischen dem „Wertewesten“ und „der russischen Welt“, was sich übrigens seit der Unabhängigkeit 1991 in wechselnden Regierungsausrichtungen widerspiegelt. Die Parallelen zum Südkaukasus (v.a. Georgien) und der benachbarten Ukraine sind kaum zu übersehen.

Die „pro-westliche“ Politik von Präsidentin Maia Sandu

2020 kam erneut eine pro-westliche Regierung an die Macht. Angeführt von Maia Sandu, einer in den USA an der Harvard Kennedy School of Government ausgebildeten und gut sehr gut in transatlantischen Kreisen vernetzten Politikerin (sie arbeitete bei der Weltbank), treibt sie ihr multiethnisches Land stark in Richtung „Westen“.

Letztes Jahr hatte Sandu eine „Säuberung des Justizwesens“ gefordert, die von westlichen Politikern und Medien als „Reformen“ und ähnliches gefeiert wurde. Und sie hat Moldova sehr nahe an die USA herangeführt, die sie als „strategischen Partner“ bezeichnete.

Im Mai 2022 wurde der damals führende Oppositionspolitiker Igor Dodon, ehemaliger Präsident des Landes, nicht nur „pro-russischer“ Haltung beschuldigt. Gemäß Reuters geschah dies, „damit die Staatsanwaltschaft Vorwürfen von Korruption und des Verrats nachgehen kann“.

Gleichzeitig berichtete TASS über erste, wenn auch noch unsystematische Fälle von Zensur in den Medien und zitierte einige Journalisten, die anführten, die Regierung von Sandu würde ihre Arbeit behindern oder behindern. Diese Berichte folgten auf einen von Sandu Ende 2021 verkündeten Ausnahmezustand, der der Regierung das „Recht“ (sic) einräumt, die Medien zu „koordinieren“.

Sanfter Putsch: Verbot der Oppositionspartei

Am 19. Juni 2023 folgte dann der nächste Schritt: erstmals seit der Unabhängigkeit 1991 wurde eine politische Partei verboten. Der Verfassungsgerichtshof ordnete die Auflösung der „pro-russischen“ Sor-Partei an, deren Vorsitzender Ilan Shor daraufhin das Land verließ.

Wie anderswo im Westen, so sind in den letzten Monaten die Preise für Energie und Lebensmittel drastisch angestiegen. Shor und die Sor-Partei haben laufhals nach Aktionen verlangt, dem entgegenzuwirken; darüber hinaus stand die Sor-Partei in klarer Opposition zu den in gewissen Kreisen verbreiteten Anschluss-Hoffnungen an Rumänien (siehe weiter unten).

Um das Verbot einzuleiten, erfolgte neben dem Vorwurf „pro-russischer“ Haltungen auch der Verweis auf Korruption und dunkle Interessen. So erklärte Justizminister Sergiu Litvinenco im Herbst, dass „die [Sor-] Partei von Oligarchen und für Oligarchen gegründet [wurde]. Von Anfang an bestand ihr Ziel darin, die Idee der Demokratie zu diskreditieren und die Unterstützung der Öffentlichkeit zu imitieren. Die Partei wurde als Ableger oder politisches Instrument einer organisierten kriminellen Gruppe gegründet.“

Vorbehalte der Venedig-Kommission des Europarates

Der nun angewendete Passus ist Art. 41 (4) betreffend das Verbot der Sor-Partei wiederum wurde von der Venedig-Kommission überprüft – mit durchaus eindeutigem Ergebnis (S. 18; meine Übersetzung und Hervorhebung):

Die Venedig-Kommission stellt fest, dass die Erklärung der Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei einen Eingriff in das durch Artikel 11 EMRK [Europäische Menschenrechtskonvention, Anm.] geschützte Recht auf Vereinigungsfreiheit darstellt und folglich die drei Anforderungen an rechtmäßige Beschränkungen erfüllen muss, d. h. die Anforderungen der Rechtmäßigkeit (gesetzlich vorgeschrieben), der Legitimität (verfolgt ein legitimes Ziel) und der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit (ist in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich).

Hier haben wir es also schwarz auf weiß: die Sandu-Regierung strebte eine rechtsstaatlich problematische politische Säuberung an, was als solches auch von den europäischen Stellen erkannt wurde. Stellungnahmen aus dem „Wertewesten“ hingegen finden sich in den „Leit- und Qualitätsmedien“ kam – und als Gedankenexperiment mag man sich vorstellen, wie empört man im „Wertewesten“ ist, wenn dies z.B. in Belarus, Russland, Kuba, Nordkorea, dem Iran, Syrien oder China geschieht.

Maia Sandu marschiert gen Westen

Diese Entscheidung aber wurde von der pro-westlichen Partei von Präsidentin Sandu einstimmig begrüßt. Sandu kommentierte die am 19. Juni 2023 veröffentlichte Entscheidung damit, dass die Sor-Partei eine politische Gruppierung sei, die „aus Korruption und für Korruption“ geschaffen wurde und aus diesem Grund „die verfassungsmäßige Ordnung und die Sicherheit des Staates bedroht“:

Die Bürger der Republik Moldova haben immer ihre Freiheit verteidigt und gleiches Recht für alle gefordert. Die Republik Moldova muss ein Staat werden, der die Korrupten bestraft und sie daran hindert, den Staat und öffentliche Gelder zur persönlichen Bereicherung zu nutzen…Nur ein Staat, der von denen gesäubert ist, die ihn bestehlen, kann seinen Bürgern Wohlstand bieten.

Spannend daran ist, dass die von Sandu geforderte „Säuberung“ die Opposition trifft, sich aber nicht gegen die von ihr angeführten staatlichen Instanzen richtet.

Die Sor-Partei selbst bezeichnete das Urteil als „beschämend, gefährlich und beispiellos“. In einer offiziellen Erklärung wird darauf hingewiesen, dass Moldova „das erste Land in Europa ist, in dem eine Oppositionspartei aufgelöst wurde“. Nebenbei sei angemerkt, dass die größte Oppositionspartei der Ukraine im vergangenen Jahr ebenfalls aufgelöst wurde.

Alexandru Tanase, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs, bezeichnete die Entscheidung des Gerichts als verfassungswidrig und warnte vor künftigen Säuberungen:

In der Republik Moldau wird bei jedem Regierungswechsel auf parlamentarischer Ebene das gesamte System der öffentlichen Verwaltung, einschließlich des Justizwesens, neu geordnet. Daher müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass dieser Präzedenzfall für künftige politische Säuberungen genutzt werden könnte, wenn es zu politischen Veränderungen auf parlamentarischer Ebene kommt.

Die zweitgrößte Partei Moldovas, die Sozialistische Partei von Ex-Präsident Igor Dodon (von 2016-20 im Amt war), sprach sich ebenfalls für Sor aus: „Die Entscheidung des Verfassungsgerichts…ist ein gefährlicher Präzedenzfall mit gravierenden Folgen für das politische System der Republik Moldau…was heute in der Republik Moldova geschieht, hat nichts mit echter Demokratie und wahren europäischen Werten zu tun“.

Hintergründe und Irrwege

Hier spielt sich vor unser aller Augen – erneut – ein Szenario ab, das wir aus den Farbrevolutionen in Georgien und der Ukraine kennen. Ein „pro-westlicher“ Politiker kommt an die Macht und strebt mit aller Kraft „gen Westen“, koste es was es wolle.

In Moldova kommt erschwerend hinzu, dass die Region Transnistrien sich nicht nur seit 40 Jahren der Kontrolle der Regierung in Chisinau entzieht, sondern zudem durch ein Kontingent russischer Truppen gleichsam „gesichert“ wird.

Kaum im Amt, hatte Maia Sandu nicht nur den Abzug der russischen Truppen gefordert, sondern spiele immer wieder mit der „Überholspur“ nach Westen – dem Anschluss an das benachbarte Rumänien, was Moldova gleichsam über Nacht in die EU und in die NATO bringen würde.

Die Kosten und Implikationen – kein Land kann rechtlich betrachtet der EU oder der NATO beitreten solange Grenz- und Territorialkonflikte ungelöst sind (was man ja seit Jahrzehnten auf dem Westbalkan beobachten kann). Insbesondere ein derartiger gleichsam „durch die Hintertüre“ erfolgender NATO-Beitritt wäre hochgradig absurd, da sich dann russische Truppen auf NATO-Territorium befinden würden.

Spiel mit dem Feuer

Vor rund einem Jahr, am 10. Juni 2022, äußerte sich Oleg Serebrian, Minister für die Wiedereingliederung Transnistriens (sic), dafür, dass sich die USA und die EU viel stärker in diese Angelegenheiten einbringen sollten. Wie TASS damals berichtete, sagte Serebrian in einem Gespräch mit dem RTR Moldova (meine Hervorhebungen)

dass das Schicksal des gegenwärtigen „5+2“-Verhandlungsformats (Moldawien, Transnistrien, OSZE, Russland, Ukraine und Beobachter aus den USA und der EU) vom Ausgang der Ereignisse in der Ukraine abhänge.

Das 5+2-Format befindet sich seit 2019 im Stillstand. Es ist erschöpft, es braucht einen Reset, es funktioniert nicht mehr. Aber niemand hat sein Todesurteil unterschrieben; das einzige und wichtigste Hindernis für das Format sind derzeit die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland. Meiner Meinung nach sollten wir die Rolle der EU und der USA in diesem Prozess neu überdenken und sie zu vollwertigen Teilnehmern machen. Das wäre vor allem in der gegenwärtigen Situation das Richtige.

Zu den jüngsten Entwicklungen gehört ein Abkommen zwischen den Parlamenten Rumäniens und der Republik Moldau über eine verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz, öffentliche Sicherheit, Zoll und Grenzschutz, Polizeiarbeit, Kultur und Bildung, wie TASS am 18. Juni 2022 berichtete (meine Hervorhebungen):

In ihrer Rede brachte die moldauische Präsidentin Maia Sandu ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass die engen Beziehungen zwischen Chisinau und Bukarest den europäischen Integrationsprozess der Republik Moldova fördern werden. Sie betonte, dass die Erfahrung Rumäniens sehr wichtig für Moldova sei, das seine Gesetzgebung an die europäische anpassen müsse…

Zuvor hatten Abgeordnete des oppositionellen Blocks der Kommunisten und Sozialisten im Parlament die Teilnahme an der Veranstaltung verweigert, die ihrer Ansicht nach die Souveränität und territoriale Integrität des Landes untergräbt…Oppositionspolitiker betonen, dass es sich in Wirklichkeit um einen „nationalen Verrat“ handelt.

Eine Reihe außerparlamentarischer politischer Parteien in Moldova und Rumänien haben jahrelang die Idee einer Vereinigung der beiden Länder mit stillschweigender Zustimmung der pro-europäischen Regierungen in Chisinau gefördert. Meinungsumfragen zufolge haben sie jedoch noch keine breite Unterstützung gefunden.

Kurz gesagt: Die Vereinigung mit Rumänien ist ein Wunschtraum einer Minderheit, der aber von Brüssel und Washington unterstützt wird, aber zumindest russischen Medienberichten zufolge (die möglicherweise nicht ganz vertrauenswürdig sind) gibt es keine breite Unterstützung in der Bevölkerung für einen solchen Schritt, ganz zu schweigen von den oben erwähnten internationalen Auswirkungen.

Epilog und Ausblick auf einen „heißen“ Sommer

Letztes Jahr hat Maia Sandu das Friedensabkommen von 1992 betreffend Transnistrien für „ungültig“ erklärt.

Nun ist die größte Oppositionspartei verboten worden.

Die „pro-westlichen“ Ambitionen von Sandu sind wohl bekannt, inklusive der Anschluss-Option an Rumänien.

Ein solcher Schritt, ob real, angekündigt oder eingebildet, würde sich drastisch auf den Konflikt in der Ukraine auswirken, der ohnehin zu eskalieren droht.

Sollte sich die Lage in diese Richtung entwickeln, kann man davon ausgehen, dass die russische Haltung härter bzw. ein Vorstoß in Richtung – und möglicherweise darüber hinaus – Odessa und den Dnjestr hinaus erfolgten kann, u.a. um eine Landverbindung mit den russischen Truppen in Transnistrien herzustellen.

Wenn Sie sich jetzt fragen: Was könnte sonst noch alles schief gehen?

Nun, für mich sieht es so aus, als könnte eine Eskalation in der Ukraine leicht auf Moldova übergreifen, was Sandu die Gelegenheit bieten könnte, um über Nacht eine „Vereinigung“ mit Rumänien anzukündigen, würde das die Frage der NATO-Unterstützung auf die Tagesordnung bringen.

Die Versprechungen des Westens an ihre Wasserträger in Osteuropa erinnern auf unheimliche Weise an die Dummheiten, die letztlich zur militärischen Eskalation in der Ukraine geführt haben, und könnten dazu führen, dass die Lage in Moldova eskaliert und wir alle näher an den Rand eines NATO-russischen Flächenbrands geführt werden.

Bild President.gov.ua, Official visit of Maia Sandu to Ukraine – 2021-01-12 – president.gov.ua 01, CC BY 4.0

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7 Kommentare

  1. Charly1 25. Juni 2023 at 19:45Antworten

    Bis ende des 2. WK gehörte Moldawien zu Rumänien, nach Kriegsende hat Stalin einen Teil von
    Moldawien an sich gerissen! Bis heute spricht die Mehrheit der Bevölkerung Rumänisch.

  2. Karl Schlosser 25. Juni 2023 at 14:51Antworten

    Doch, was in Moldawien passiert, basiert auf europäischen, bürgerlichen Werten. Bürgerliche Demokratie ist eine Herrschaftsform. Wenn diese Form den Bedürfnissen der verschwindend kleinen, herrschenden Elite nicht mehr genügt, wird sie ersetzt. Ob faschistische Diktatur, Militär- oder Polizeistaat, ja selbst eine Monarchie; die herrschenden Minderheiten nehmen was für sie am Nützlichsten ist. Man sollte immer das Italien Mussolini`s, oder die Weimarer Republik und ihr Ende im Hinterkopf haben!

    • TripleDelta 25. Juni 2023 at 20:54Antworten

      Sie können doch nicht dem Glaubensbekenntnis zur Demokratie widersprechen! Das ist Gotteslästerung.

  3. federkiel 25. Juni 2023 at 13:03Antworten

    Zur Region des Kaukasus fällt mit Prometheus ein, der dort gefesselt ist, und dem der Adler ständig die Leber rausfrißt: Nun aber scheint es sich um den „schlechtgefesselten Prometheus“ (A.Gide) zu handeln, oder immer wieder mal.

  4. suedtiroler 25. Juni 2023 at 13:02Antworten

    es gibt keine Werte!
    es gibnt nur Interessen

  5. Jan 25. Juni 2023 at 12:00Antworten

    Führt ein Dasein zwischen „Wertewesten“ und „russischem Öl“…

    Da die Moral nach dem Fressen kommt, sind westliche Errungenschaften wie Korruption, eingeschränkte Menschenrechte, abhängige Justiz, unfreie Wissenschaft alle davon abhängig, dass der Diktator das Fressen garantieren kann, die Hysterie verlagert sich sonst merklich. Mit Insekten und Solar wird das kaum gehen; dieser Nachweis wird noch erbracht werden zu Lasten einer unbelehrbaren Generation. Wenn die dauerhaft weg von den Schalthebeln der Macht ist, bleiben nicht mehr viele Optionen. Der Westen verfügte in der Vergangenheit über den Weltpolizisten und damit Öl. Für die Zukunft bleiben nur Korruption, Hunger und Armut.

  6. OMS 25. Juni 2023 at 10:32Antworten

    Die Werte des Westens sind Lügen, Lügen und nochmals Lügen! Was mit der Eroberung Amerikas und der Fastausrottung der „Idianer“ begann, wird weiter Verfolgt. Kein Vertrag des Wertewestens, USA hörig, ist das Papier wert, auf welchem er geschrieben steht. Sieht man auch eindeutig bei der EU.

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