Im russischen Exil: Der „Frischling“ unter den Exilanten

29. April 2024von 9,8 Minuten Lesezeit

Tom J. Wellbrock kenne ich seit 2017. Er ist Journalist, Blogger, Sprecher, Podcaster, Autor und Moderator. Als Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.de befasst er sich vornehmlich (aber nicht ausschließlich) mit innenpolitischen Themen. Er arbeitet zudem für die NachDenkSeiten als Sprecher und verfasst dort gelegentlich Gastbeiträge. Zudem war er Mitarbeiter beim Kontrafunk Radio. Seit einigen Jahren arbeitete er freiberuflich für ein in der EU verbotenes Medium. Seit kurzem tut er das 20 Stunden pro Woche – direkt von Moskau aus.

Tom hat Deutschland schon vor einiger Zeit verlassen. Er lebte einige Monate in Ungarn und war am 6.1.2024 noch als einer der Sprecher bei der Kundgebung für die Neutralität Österreichs in Wien aktiv. Erst Anfang April ist er nach Russland übersiedelt – wir haben uns knapp verpasst. Aber es gibt ja Telegram.

Warum bist Du im November 2023 nach Ungarn ausgewandert?

Gute Frage. Deutschland habe ich schon 2020 gedanklich verlassen, als der Corona-Wahnsinn losging. Die totalitäre Entwicklung zeichnete sich ja deutlich ab. Wir haben befürchtet und prophezeit, dass sich der Weg in den Totalitarismus nicht mehr umkehren lassen wird. Der Rest ist Geschichte, es hat sich alles als wahr herausgestellt. Die Entwicklung gab und gibt uns Recht.

Ungarn war ein Kompromiss. Meine Frau und ich dachten, dass wir uns vielleicht sicherer und wohl besser fühlen, wenn wir innerhalb der EU bleiben. Aber wenn schon EU, dann kam nur das Land des schrecklichen Victor Orbáns in Frage. Man muss es auch praktisch sehen: Rechnungen zu stellen – und dank SWIFT auch bezahlt zu bekommen – ist innerhalb der EU deutlich leichter.

Und warum hast Du Ungarn im April 2024 schon wieder verlassen?

Das war eigentlich eine logische Konsequenz. Ungarn ist für mein Empfinden das beste Land innerhalb der EU, aber auch dort werden Entscheidungen im Sinne der EU getroffen, die ich nicht mittragen kann – insbesondere die militärischen Entscheidungen – Stichwort Ukrainehilfe. Und dann hat Victor Orbán im Rahmen des Gaza-Konfliktes nicht für eine Waffenruhe gestimmt, sondern sich nur enthalten. Das fand ich skandalös. Inwieweit Ungarn seitens der EU erpressbar ist, weiß ich nicht, aber da wird letzten Endes in meinen Augen auch nur opportunistisch reagiert. Das war für uns keine langfristige Lösung.

Wenn Du den Umzug nach Ungarn mit dem Umzug nach Russland vergleichst – gab es da Unterschiede?

Der Umzug war nach Ungarn war im Vergleich zur Übersiedelung nach Russland ein Kindergeburtstag. Wir fuhren von Deutschland über Tschechien und die Slowakei nach Ungarn, haben eine Nacht in Prag verbracht und waren angekommen.

Der Weg nach Russland war eine völlig andere Geschichte. Der erste Teil von Ungarn über Polen, Litauen, Lettland war auch noch ok. Aber dann kam die lettische Grenze. Und was da passierte, war der Wahnsinn. Ich habe über 50 Stunden Grenze verbracht und am Schluss kam dann als Sahnehäubchen eine Befragung durch die russische Security, die mich quasi gegrillt hat.

Warum das? Du hattest doch ein gültiges Visum?

Meine Einreise war ja kurz nach dem Anschlag auf Crocus. Ich war schon irgendwie darauf vorbereitet, dass es schwierig werden könnte. Aber zwischen Stunde 40 und Stunde 52 gehen einem schon mal die Nerven durch, da kullern schon Tränen. Es klingt dramatischer, als es vermutlich war, aber ich war nach der langen Zeit nervlich und physisch am Ende. Das hätte keiner gebraucht, ich hatte ja auch unsere beiden Hunde mit im Auto, die Stress hatten.

Was wollte die Security denn wissen?

Es ging darum, ob ich gewissermaßen vom Verfassungsschutz oder Auslandsgeheimdienst komme, ob ich Geheimnisträger bin. Lauter solchen Unsinn, den ich auch problemlos widerlegen konnten. Das kann man auch alles im Detail beim Stichpunktmagazin  nachlesen. Da habe ich ausführlich über meine Zeit im Grenzbereich geschrieben.

Die Anreise war hart, wie verliefen die ersten Tage nach der Ankunft?

Die waren grauenvoll. Ich war mutterseelenallein mit meinen beiden Hunden irgendwo in der Nähe von Moskau. Ich war allein, einsam und sehr, sehr unsicher.

Warum ist Deine Frau denn nicht mitgekommen?

Sie kommt erst Anfang Mai nach. Erst muss mein Arbeitsvisum fertig bearbeitet sein, dann kann die Einladung für Familienmitglieder erfolgen. Den Antrag für das Arbeitsvisum hatte ich bereits von Ungarn aus gestellt und auf Basis der beglaubigten Einladung meines Arbeitgebers dann das Einreisevisum erhalten. Sobald man eingereist ist, wird das Arbeitsvisum erst weiterbearbeitet. Aber das ist jetzt auch durch.

Ich kenne Dich nicht gerade als unsicheren Menschen. Was war denn los?

Ich dachte, die Russen müssen mich hassen, gerade mich als Deutschen. Deutschland ist in der geopolitischen Gemengelage so ziemlich das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Da hatte ich echt Angst. Ich blieb im Haus – traute mich nicht wirklich vor die Tür.

Aber das eigentlich Schlimme ist: das war komplett überflüssig – das Gegenteil war der Fall. Alle Russen, denen ich bis jetzt hier begegnet bin, nehmen mich an und auf. Sie freuen sich und sind total offen. Die Offenheit lässt sich kaum in Worte fassen.

Wie geht es Dir jetzt?

Noch fehlt mir meine Frau, aber sonst geht es mir richtig gut. Die ersten Tage der Verunsicherung sind dank der unglaublich herzlichen und warmherzigen Aufnahme vorbei. Ich lebe im Oblast Moskau – ca. eine Autostunde von Moskau entfernt. Hier hat alles noch ländlichen Charakter, das wollten wir so.

Wie habt Ihr Euren Wohnsitz gefunden?

Ganz einfach online. In einer russischen Immobilienbörse haben wir passende Häuser entdeckt, ca. 100 Vermieter angeschrieben und unzählige Online-Besichtigung gemacht. Der Makler, der uns das jetzige Haus anbot, wollte 50.000 Rubel – also 500 Euro – Anzahlung. Das war ein gewisses Risiko, er hätte ja auch unseriös sein können. Aber es hat sich herausgestellt, dass er sehr seriös ist. Ich musste ihm hinterherlaufen, um die Provision zu zahlen. Auch meinem Vermieter muss ich die Miete fast aufdrängen.

Das klingt ja eigenartig.

Ja. Mein Vermieter sagte: für uns Russen ist Kommunikation wichtiger als Geld. Das Verhältnis der Russen zu Geld ist sehr entspannt. Ich habe den Eindruck, man muss sich anstrengen, sein Geld los zu werden. Gestern hat es mit dem Vermieter geklappt, nachher kommt dann der Makler vorbei.

Wie erlebst Du die russische Bürokratie?

Die steht der Deutschen in nichts nach. Sie ist anders, aber ebenso grausam. Allerdings – Bürokratie ist in meinen Augen eigentlich immer grausam. Aber hier gibt es auch Ausnahmen, da gehen Dinge, die eigentlich nicht möglich sind.

Mir wurde gesagt, dass meine Frau frühestens Ende Mai kommen kann und das, nachdem ich bis dahin davon ausging, dass wir Ende April wieder zusammen sind. Meine Enttäuschung darüber fiel sehr deutlich aus – und eine Woche später wurde mir mitgeteilt haben, dass sie mein Visum schneller ausgestellt haben, so dass meine Frau früher kommen kann.

Wie ist die Unterstützung durch Deinen Arbeitgeber?

Die war vorbildlich. Es gab einiges zu organisieren, was nicht immer leicht ist. Es ist ja für Russland immer noch eher untypisch, dass Auswanderer aus der EU kommen. Die Sanktionsproblematik macht alles kompliziert, man muss kreativ sein. Das haben die aber toll geregelt. Ich bekomme von allen Seiten Hilfe. Habe ich Frage, unterstützen Chefin oder Kollegen. Jeder hat signalisiert: „Wenn Du Hilfe brauchst, sag Bescheid“. Das hat mich schon mehr als einmal zu Tränen gerührt.

Was würdest Du interessierten Auswanderern empfehlen, was sie besser machen können als Du?

Sie sollten auf jeden Fall früher anfangen, Russisch zu lernen. Ich habe damit erst im Februar begonnen. Für diese komplexe Sprache braucht man zwei bis drei Jahre bis man sie halbwegs spricht. Im Ausland allein ist es noch schwieriger zu lernen als im Land, wo man praktisch üben kann.

Sie sollten so früh wie möglich Kontakte nach Russland knüpfen. Es gibt unzählige gute Leute, die großartige Hilfestellung leisten. Die einem Dinge ermöglichen, die eigentlich nicht möglich sind. Sie helfen bei der Vorbereitung, beim Grenzübertritt und bürokratischen Fragen. Moya Rossiya https://moyarossiya.com/de/ ist Pflicht, das Beste was ich im Moment kenne. Die haben mir auch persönlich sehr geholfen.

Welche Aufgaben hast Du in der Redaktion?

Das, was ich vorher auch gemacht habe: Meinungs- und Analyse-Artikel schreiben, meine Artikel und die anderer Autoren vertonen. Ich bin dort im Sprecherbereich aktiv – da habe ich ja viel Erfahrung.

Und jetzt auch an Dich die Frage: wie frei kannst Du dort arbeiten?

Bei meinen Artikeln bin ich frei. Ich stimme sie thematisch mit den Endredakteuren ab, um Doppelung zu vermeiden. Themenvorschläge werden zu fast 100% der Fälle genommen und in die Texte wird nicht eingegriffen – ausschließlich lektoriert. Das habe ich in der ganzen Zeit als freiberuflicher Mitarbeiter nie anders erlebt – also ungefähr seit drei Jahren.

Arbeitest Du weiter für die Nachdenkseiten, die Neulandrebellen und das Stichpunkt-Magazin?

Ja. Neuerdings auch für apolut – auch wenn das natürlich jetzt einige bürokratische Probleme hervorruft. Das kriegen wir aber sicher irgendwie hin.

Kannst Du jederzeit nach Deutschland zurück?

Ja klar, ich kann ja jederzeit aus Russland ausreisen. Bei mir war das keine „Flucht“ vor der Strafjustiz. Strafbewährt war da bis jetzt nichts, Strafanzeigen laufen bei mir keine. Meine Rentenansprüche in Deutschland haben sich wohl erledigt, aber sonst steht einer Rückkehr formell nichts im Wege.

Wieso denn keine Rente? Ich bekomme in Österreich auch Rente aus Deutschland?

Mein Stand ist, dass Auswanderer nach Russland ihre Rente nicht mehr bekommen. In Ungarn wäre das kein Thema gewesen. Der Rentenverzicht war das Ergebnis einer klaren Abwägung – entweder gehe ich nach Russland und realisiere meinen Traum und verzichte auf die Rente. Oder ich verzichte auf meinen Traum. Das wollte ich definitiv nicht.

Wieso hast Du von Russland geträumt?

Meine Frau ist ein Kind der DDR und hatte immer schon eine engere Beziehung zu dem Land. Ich habe vor vier Jahren eine Russin – Sofia – kennengelernt. Aus anfänglicher Zusammenarbeit entwickelte sich eine Freundschaft, die 2022 nach Kriegsbeginn in einer Einladung nach Moskau mündete.

Dieser Einladung bin ich im Mai gefolgt, und habe gemeinsam mit Thomas Stimmel und Matthias Bröckers eine Woche in Moskau und Woronesch verbracht. Ich hatte die Gelegenheit am 9.5., dem Tag des Sieges, am Marsch des unsterblichen Regiments teilzunehmen. Das ist ein unfassbares Erlebnis, wenn eine Million Menschen friedlich durch Moskau gehen und der Opfer gedenken. Dank Sofia konnte ich die Rede von Putin direkt am Roten Platz verfolgen.

Die ganze Woche war einfach … unbeschreiblich. Die russische Seele hat mich einfangen. Dabei war es weniger Moskau – es war die Zeit in Woronesch. Als ich Woronesch kennenlernte, begann ich zu verstehen, wie das gemeint ist, wenn die Menschen sagen: „Moskau ist Moskau – aber Moskau ist nicht Russland“.

Man muss für Russland gemacht werden – auch für die klimatischen Verhältnisse. Man muss Kälte, Winter und Schnee mögen. Das Wetter ist hier eigenwillig, im Winter hat man teilweise meterhoch Schnee. Man muss auch die riesigen Distanzen mögen. Das Land hat allein 11 Zeitzonen. Von Moskau nach Woronesch ist es quasi ein Katzensprung – mit dem Zug sind es nur sechs Stunden.

Aber ich denke, meine Frau und ich sind dafür gemacht!

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6 Kommentare

  1. Dors Venabili 29. April 2024 at 9:38Antworten

    Oha, Tom Wellbrock wandert nach Rußland aus! Beste Wünsche zum Gelingen!

    Allerdings, ist es nicht etwas zu hoch gegriffen wegen einer Enthaltung Viktor Orbans gleich wieder Ungarn zu verlassen? Ich denke, so manche Entscheidung Putins könnte man dann auch mit hochgezogenen Brauen versehen…

    Klar, wir leben momentan in sehr „prekären“ gesellschaftlichen Verhältnissen. Wenn Orban irgendwie ausmanövriert wird, überholt Ungarn dann Polen links? Leider gilt diese Unwägbarkeit auch wenn Putin irgendwann Geschichte ist. Was zählt, ist die Vernetzung im unmittelbaren Lebensumfeld mit Menschen, die man schätzt und denen man vertraut. Also, noch mal, beste Wünsche zum Gelingen!

    • Hasdrubal 29. April 2024 at 12:16Antworten

      Wenn Orban irgendwie ausmanövriert wird, überholt Ungarn dann Polen links?

      Es müsste schon konkreter sein als ungefähre Links/Rechts-Richtung. Der Interviewte arbeitete früher für die NachDenkSeiten, die ziemlich lange der Lobby-Klimareligion anhingen – anders als TKP. Wenn man links redet und die Oligarchen mit Klimagedöns noch reicher machen will, ist das links oder rechts? Könnte der Interviewte was dazu schreiben?

      • Dors Venabili 29. April 2024 at 15:32

        Ja, ist etwas verwirrend heutzutage. Die, die früher „links“ waren sind plötzlich konzerngetriebene Hyperkapitalisten aber unbedingt sozial- und klimagerecht…

  2. George 29. April 2024 at 8:42Antworten

    großen Respekt vor der Autorin. Auswandern käme für mich jedoch nicht in Frage. Ich bleibe gerne in Deutschland, und halte hier dagegen. (stelle zunehmend fest, dass dies auch menschlich bereichernd ist) hier)

    Wenn die Schweiz z.B. gelegentlich von den Aufklärungsprotagonisten als das humanes Musterland dargestellt wird, seien nur einige Stichworte angemerkt : 1MDB, Lava-Jato, Panama-Papers oder PDVSA.
    Wer das anders sieht: Bitte gerne

    • Hasdrubal 29. April 2024 at 9:45Antworten

      Mir reicht eine Auswanderung im Leben (aus Ex-Deutschland nach Westdeutschland). Klar, dass Ungarn innerhalb der „EU“ nicht alles beliebig gestalten kann, doch im April 2024 müsste man auf ein Ende des Woken Imperiums hoffen – TKP bringt heute einen Artikel darüber und über Orban. Das Böse Medium des Interviewten zitierte gestern Ukro-Offiziere, die eine Niederlage im Donbass bis Oktober erwarten – wenn das Land des Mediums sich sputet, vielleicht wird bis dahin alles östlich des Dnepr fällig? Dann sind im Herbst Felder für Panzer unpassierbar und im Winter würde wohl der Rest folgen.

      Der Woke Westen würde darauf heftige Turbulenzen erleben vermutlich mit ähnlicher Wirkung wie die Afghanistan-Niederlage auf das Sowjetimperium.

      • George 29. April 2024 at 17:29

        wenn wir jeden Tag unseren Mitmenschen etwas mehr menschliche Wärme zukommen lassen wie Sie das ja hier mit ihren Beitragen digital machen, ist das die beste Methode nach meinen Erfahrungen (insbesondere mit Menschen aus der ehemaligen DDR), um die Lieblosigkeitszüchter zu „beschämen.“ (neben den ganzen sinnvollen intellektuellen Analysen)
        Stellen Sie sich vor, die Menschen würden sich gegenseitig die Streicheleinheiten geben, die Sie ihren Autos oder Smartphones zukommen lassen . (kleiner Scherz)

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