Friedensnobelpreisträger: In Gaza stirbt die internationale Ordnung

12. Februar 2024von 3,7 Minuten Lesezeit

Mit der ethnischen Säuberung des Gazastreifens driftet die Welt in ein Chaos. Die alte internationale Ordnung stirbt, so der ägyptische Friedensnobelpreisträger von 2005. 

Während die Welt mit der „Super Bowl“ abgelenkt war, begann Israel in der Nacht auf Montag die Bombardierung von Rafah im Süden des Gazastreifens. Rafah ist der letzte Fluchtort für die Bewohner des Gazastreifens, nachdem Israel seine Offensive von Nord nach Süd entwickelt hat. Es ist das nächste Kapitel der ethnischen Säuberung des Gazastreifens wie sie sich sehr schnell nach dem 7. Oktober abgezeichnet hatte.

Ein Großisrael zeichnet sich ab, das die Weltordnung aber durchschütteln dürfte – mit Folgen, die noch nicht abzusehen sind. Eine warnende Stimme ist der ägyptische Diplomat Mohammed el-Baradei, der für wenige Tage nach dem „arabischen Frühling“ Vize-Präsident gewesen war Zusammen mit der Internationalen Atomenergiebehörde erhielt er 2005 den Friedensnobelpreis. Er sieht durch den Gaza-Krieg die alte Internationale Ordnung sterben, wie er in einem Essay vergangene Woche bei Qantara geschrieben hat.

Weltgebäude eingestürzt

Trotz seiner typischen – und falschen – Einschätzung von Covid, ist die Bombardierung von Rafah ein Anlass, einige Zitate des Essays als gewichtige Stimme aus dem Globalen Süden zu teilen. Vor allem auch, weil Ägypten wohl noch eine entscheidende Rolle in der Frage um Gaza zukommen dürfte.

Der Einsatz militärischer Gewalt ist mittlerweile die Standardmethode zur Beilegung von Konflikten zwischen Ländern (Russland und Ukraine) und innerhalb von Ländern (Jemen und Sudan). Gleichzeitig verschwindet das multilaterale Sicherheitssystem, an dessen Spitze die Vereinten Nationen stehen, in der Bedeutungslosigkeit.

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Darüber hinaus hat sich die Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden vergrößert und immer mehr Länder des Südens leiden unter einer erdrückenden Schuldenlast. Diese verschärft wiederum die Armut, schürt die Migration und schafft Misstrauen.

Zwischen dem Westen und der arabischen sowie muslimischen Welt zeichnet sich ein Bruch ab, auch wenn die Bevölkerungen im Westen und in der arabischen Welt ihre Wut auf ihre jeweiligen Führungen richten.

[…]

Von allen Seiten ertönt eine entmenschlichende, wuterfüllte Rhetorik, die ihren Widerhall auf den Straßen der Metropolen, in Universitäten und auch in Kleinstädten weltweit findet. Sämtliche Bemühungen der letzten Jahrzehnte, Brücken des Respekts und der Verständigung zu bauen, scheinen in sich zusammengebrochen zu sein.

Darüber hinaus haben die arabische und muslimische Welt das Vertrauen in vermeintliche westliche Normen wie Völkerrecht und internationale.

[…]

Der Krieg lehrt uns zweierlei. Erstens: Konflikte lösen sich nicht von selbst und sie schwelen zu lassen ist kurzsichtig und gefährlich. UN-Generalsekretär António Guterres wurde von Israel heftig angegriffen, nachdem er erklärt hatte, dass der Angriff der Hamas vom 7. Oktober „nicht in einem Vakuum geschah.”

Doch damit würdigte er eine Wahrheit – nämlich das aufgestaute Gefühl von Demütigung und Ungerechtigkeit unter den Palästinensern – die die meisten Menschen, die den palästinensisch-israelischen Konflikt verfolgen, schon lange erkannt haben. Institutionen, Menschenrechte und demokratische Werte verloren.

[…]

Die andere wichtige Lehre besteht darin, dass der Aufbau eines stabileren und gerechteren globalen Sicherheitssystems und einer ebensolchen Finanzarchitektur strukturelle Reformen erfordert.

Zunächst einmal sollte das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats drastisch beschnitten, wenn nicht gar abgeschafft werden.

Außerdem müssen die USA und Russland die Atomwaffenkontrollgespräche wieder aufnehmen und sinnvolle Schritte in Richtung Abrüstung unternehmen. Es ist ein Skandal, dass es zwischen den beiden größten Atommächten der Welt überhaupt kein Abkommen zur Atomwaffenkontrolle mehr gibt.

Die Bretton-Woods-Institutionen – Internationaler Währungsfonds und Weltbank – müssen den Entwicklungsländern im Bereich globaler Entscheidungsfindung ein angemessenes Mitspracherecht einräumen und ihnen einen gerechten Zugang zu finanziellen Ressourcen für ihre Entwicklung verschaffen.

Obwohl die politischen Entscheidungsträger seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor mehr als 30 Jahren eine derartige Überarbeitung fordern, wurden bisher keine Fortschritte erzielt. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir diese durch den Krieg entstandene Chance verspielen. Ohne eine radikale Reform der internationalen Ordnung wird der Gaza-Krieg zum Vorboten einer Welt außer Kontrolle.

Bild Doyle of LondonPro-Palestine Graffiti in Whitechapel (01)CC BY-SA 4.0

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10 Kommentare

  1. Fritz Madersbacher 12. Februar 2024 at 13:43Antworten

    „Ein Großisrael zeichnet sich ab, das die Weltordnung aber durchschütteln dürfte – mit Folgen, die noch nicht abzusehen sind“
    Israel ist bereits „Groß-Israel“, mit jeder (vermeintlichen) Vergrößerung nähert es sich dem Zusammenbruch seiner verbrecherischen (Apartheids-)Politik und reißt seine westlichen Komplizen mit in den Untergang ihrer einstigen (Selbst-)Herrlichkeit. Der Widerstandswille des palästinensischen Volkes ist durch nichts zu brechen, seine Unterstützer in der „globalen Mehrheit“ haben die Schwäche ihrer großspurigen Unterdrücker längst durchschaut …

  2. Wolfgang Frommann 12. Februar 2024 at 13:00Antworten

    Jede Darstellung des Problems klammert das Versagen der UNO aus. Die UNO sollte abgeschafft (die privat geführte WHO gehört dazu) und durch ein neues System ersetzt werden. Die UNO hat 1947 versagt, seinerzeit hätte die UNO-Gebiete im heutigen Jordanien und Ägypten den im Gebiet Israel lebenden Arabern zuordnen können. Nur wollen tat sie nicht. Heute hält sie sich wieder zurück. Israel tut das Seine, um sein Land und seine Menschen zu schützen. Was täten sie, wenn ihr Nachbar ständig schreit, ich will dich umbringen und vernichten und hin und wieder ein Familienmitglied umbringt? Warum fordert die UNO nicht die moslemischen Staaten -vorneweg Jordanien und Ägypten- auf diese Menschen aufzunehmen? Die Staaten der Weltgemeinschaft jedoch schweigen und schauen zu. Wie an vielen Orten in Afrika, in Europa, in Asien und Amerika. Abwarten und Tee trinken sowie in eine und manchmal in eine andere Ecke sich erregen.

    • Hannes Mitterer 12. Februar 2024 at 16:34Antworten

      Wolfgang Frommann
      12. Februar 2024 at 13:00Antworten

      Sie haben schon recht, die UNO ist eine Institution ohne Zähne, eigentlich vollkommen unnötig.
      Das langsam rauskommt dass die UNRWA den militärischen Teil der Hamas, zumindest gewähren ließ, zeigt die Unfähigkeit der UNO noch deutlicher.
      Aber, solange der religös-dümmliche Hass “ Israel muss ausgelöscht werden“ besteht, wird es keine Institution geben die dauerhaft Frieden schaffen kann.
      Das geht mit, zwischendurch kleine Scharmützeln wieder einen ganze Weile, bis es den Deckel wieder absprengt.
      Ägypten will aus gutem Grund die Palestinenser nicht im Land haben, hatten sie doch mit radikalisierten
      Al Kaida, in der nahen Vergangenheit genug zu tun.
      Es wird noch Jahrzehnte und viele Generationswechsel brauchen bis im Nahem Osten, eine Art von Toleranz, Andersgläubigen gegenüber, festzustellen sein wird.

    • rudi fluegl 12. Februar 2024 at 19:54Antworten

      Hätte meine Familie einen Grenzstein in der Art versetzt, dass dem Nachbarn nur mehr minderwertige Ackerfläche verbleibt und der mit seinen Kindern meine bedroht, würde ich selbstverständlich mit Bekannten und Freunden aus fernerer und näherer Umgebung dafür sorgen, dass von meinen Nachbarn nichts mehr übrig bleibt. Am besten damit -der üblen Nachrede wegen-,dass er zu seinen Verwandten zieht, die ihn auch nicht mögen und ich die nutzloseren Reste auch noch bekomme!

    • Fritz Madersbacher 12. Februar 2024 at 21:24Antworten

      @Wolfgang Frommann
      12. Februar 2024 at 13:00
      „Israel tut das Seine, um sein Land und seine Menschen zu schützen“
      Wie seinerzeit der kolonialistische Buren- und Apartheidsstaat Südafrika, den es nicht mehr gibt. Auch er wurde im Gebiet einer anderen Bevölkerung gegründet, die er brutal unterdrückte und vertrieb, mit den entsprechenden Folgeproblemen.

      Wie hieß es im kürzlich veröffentlichten „Hamas-Bericht“ („Hamas veröffentlicht ersten Bericht seit Kriegsbeginn“, Link in diesem Blog am 24. Januar 2024):
      „Hamas does not wage a struggle against the Jews because they are Jewish but wages a struggle against the Zionists who occupy Palestine … Yet, it is the Zionists who constantly identify Judaism and the Jews with their own colonial project and illegal entity … The Palestinians stand against injustice against civilians, including „what the Jews were exposed to by Nazi Germany“ … Here, we remind that the Jewish problem in essence was a European problem, while the Arab and Islamic environment was – across history – a safe haven to the Jewish people and to other peoples of other beliefs and ethnicities … We reject the exploitation of the Jewish suffering in Europe to justify the oppression against our people in Palestine“
      (Published date: 21 January 2024)

      „Wenn sogar schon das kritikscheue Österreich Israel vor der Rafah-Offensive warnt, dann spricht daraus auch die Angst vor einer Destabilisierung Ägyptens“ („Der Standard“, 11.2.2024)
      Das ist rundweg falsch, es spricht daraus die neugewonnene Erfahrung des Neutralitätsschwindlers Österreich, wie weit es mit seiner bedingungslosen Komplizenschaft mit den Verbrechen der israelischen Regierung in internationale Isolation geraten ist …

      • Hannes Mitterer 13. Februar 2024 at 8:03

        Fritz Madersbacher
        12. Februar 2024 at 21:24Antworten

        Sie unterscheiden nicht zwischen Hamas und Hamas ?
        Hamas ist nicht gleich Hamas.
        So wie es unter Juden, Zionisten gibt, so gibt es unter dem Begriff Hamas, den terroristischen Anteil unter Gutheißen des nicht radikalen Teils.

      • Fritz Madersbacher 13. Februar 2024 at 16:12

        @Hannes Mitterer
        13. Februar 2024 at 8:03
        Unsere „Unterscheidungen“ sind ebenso belanglos wie jene der israelischen Regierung und ihrer westlichen Unterstützer in Politik und Medien, denen wir sie entnommen haben. Sie sind nur Propaganda, Wunschdenken, Urteil und Einmischung von außen. Entscheidend ist das palästinensische Volk, und es wird in seinem – auch militärischen (Partisanen-) – Widerstand niemals nachlassen …

  3. niklant 12. Februar 2024 at 12:38Antworten

    Viele, die wie ich anfänglich von einem Völkermord in Gaza-Streifen schrieben, wurden in die unterste Ecke gedrängt, weil man uns für Terror-Anhänger hielt! Wenn man Kinder und alte Frauen und Männer als Terroristen einstuft und tötet, dann gebe ich recht, aber was hier wirklich passiert, ist nur eine Vollständige Bereinigung! Der Gaza Streifen wird umbenannt, Israels Todeszone!

  4. federkiel 12. Februar 2024 at 12:35Antworten

    Man hat die Menschen in Rafah zusammengetrieben, es sollen über 1 Million sein. Sie hausen, denn wohnen kann man das nicht nennen, in Zelten und selbstgebastelten Hütten, es fehlt offensichtlich an allem. Und nun kommt Netanyahu daher, und ordnet dem Militär an, einen Plan für die Evakuierung der Menschen aus Rafah zu erstellen, wohl wissend, daß Ägypten die Grenze nicht öffnen wird. Das Militär nun wiederum spielt den Ball an Netanyahu zurück, und fordert eine politische Entscheidung. Was ist das für eine irre Chuzpe, die da abgeht? Und während dieses Geplänkels finden wieder Luftangriffe auf Rafah statt, natürlich mir zahlreichen Toten.
    Ich gehe noch weiter als der UN-Generalsekretär António Guterres zum 7.10. und sage:

    Wer Wind säht, wird Sturm ernten.

    • Hannes Mitterer 12. Februar 2024 at 18:02Antworten

      federkiel
      12. Februar 2024 at 12:35Antworten

      Die Hamas wäre in der Lage dies augenblicklich zu beenden und Israel zum sofortigem Stop der Kampfhandlungen zu zwingen.
      Die Hamas sieht dem Sterben des eigenen Volkes zu.
      Ideologie, religiöser Wahn, Auslöschung Israels vor dem Leben des Einzelnen.
      Also bereit auch Frauen und Kinder zu opfern.
      Na, wo glauben Sie denn wo sich die großen Hamsführer verstecken ? Mitten unter Frauen und Kinder, diese elenden Feiglinge.
      Richtig, der Wind den die Hamas gesäht hat ist zum Sturm geworden, allerdings hat der Wind, der den Sturm ausgelöst hat, gehofft dass der Sturm zu Orkan wird der alles Israelische auslöscht.
      Daraus wurde bekanntlich nichts, weil die Glaubensbrüder nicht so dumm sind, sich auf so etwas Großes einzulassen.
      Solange auf den Fahnen des radiklalem Islam steht: Israel von der Landkarte tilgen, Israelis auschlöschen, solange ist jeder Versuch einer Verständigung sinnlos.

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