Von wegen hippokratischer Eid!

5. Dezember 2023von 5,1 Minuten Lesezeit

Wie Phönix aus der Asche sei der „hippokratische Eid“ vor 500 Jahren in deutschen Landen aufgetaucht. Nach fast 2000-jährigem Verschwinden sei er 1518 an der Universität Wittenberg erstmals gesprochen worden. Kein anderes Dokument ist mehr zum Mythos der europäischen akademischen Medizin geworden. Doch wie alt ist er wirklich? Wer hat ihn verfasst? Und beinhaltet er das, wofür er steht?

Auf der griechischen Insel Kos, auf der der legendäre Heiler Hippokrates und sein Clan gewirkt hätten, finden sich nur Residuen eines Heiltempels des göttlichen Asklepios. Bis heute fehlen authentische Belege für die Existenz des „Herrschers der Pferde“, wie die Übersetzung von „Hippokrates“ lautet. Entsprechend besitzen wir von dem seiner Schule zugeschriebenem Eid weder ein antikes Original, noch gesichert authentische Kopien.

Angeblich antike Fragmente, auf denen wenige Worte des Textes stehen und die im Vatikan lagern, sind nicht datierbar. Zwei gleichlautenden vollständigen Eidesformeln auf Pergament, die ebenfalls der Vatikan beherbergt, enthalten keine zeitliche Zuordnung oder Beglaubigung einer worttreuen Kopie. Die römischen Gralshüter beanspruchen für Ihre Abschriften ein Alter von mindestens einem Jahrtausend. Aber es können auch einige Jahrhunderte weniger sein.

Aber warum ist die Formel ikonographisch in christlicher Kreuzform ausgeführt, wenn es sich doch um die Abschrift eines Dokuments aus dem heidnischen Griechenland handeln soll? Warum wäre der angeblich so fundamentale Eid ein halbes Jahrtausend in einer Schublade geblieben, obwohl doch im 13. Jahrhundert die ersten medizinischen Fakultäten gegründet wurden?i

Vor 1518, als die Eidesformel Bestandteil einer Promotion an der gerade neugegründeten protestantischen Universität in Wittenberg war, gibt es keinen Beleg für seine Verwendung!ii Alle Indizien sprechen dafür, dass der Text erst mit der Glorifizierung einer idealisierten griechischen Kultur in der Renaissance entstanden ist. Nicht unter den römisch-katholischen Kirchenoberen, sondern in den Reihen der protestantisch gebürsteten und griechisch orientierten Humanisten der überkonfessionellen Gelehrtenrepublik wären dann die Urheber zu suchen. Die Griechisch-Koryphäe Philipp Melanchthon (1497-1560), die Hippokrates und die römische Arztlegende Claudius Galenos zum A und O der Medizin erklärte, trat zeitgleich mit dem Auftauchen der Verpflichtungserklärung 1518 in Wittenberg seine Professur an.

Die Eidesformel enthält Vorgaben, die so gar nicht zu den Medizinvorstellungen während der griechischen Antike passen. Weder war damals Sterbehilfe untersagt, ein Schwangerschaftsabbruch unzulässig, noch Operationen handwerklichen Spezialisten vorbehalten. Der Text folgt ganz unverkennbar kirchlichen Vorgaben für mitteleuropäische Medizingegebenheiten, wo Handwerker als Spezialisten für die Entfernung von Blasensteinen benötigt wurden, die Beendigung einer Schwangerschaft Sünde und Sterbehilfe Priestern vorbehalten war.iii Derart strikte Vorgaben wären in der damaligen griechischen Kleinstaaterei ohnehin abwegig gewesen. Schwangerschaften waren ohnehin exklusive Angelegenheit von Hebammen und wären gar nicht in das Tätigkeitsfeld männlicher Medizinkundiger gefallen.

Ärzte sollten gemäß dieser Verpflichtungserklärung zwar „zum Nutzen“ ihrer Patienten tätig sein und sie „vor Schaden und Unrecht“ bewahren. Nicht zu schaden als vorrangiges Gebot jeglicher Behandlungen, ist jedoch nirgends fixiert. Allerdings scheint der sexuelle Missbrauch Hilfesuchender durch Ärzte ein Problem gewesen zu sein. Die Anrufung von Apollo, Asklepios und weiteren griechischen Gottheiten im ersten Absatz verschleierte den kirchlichen Ursprung.

Die Urheber des Eids wollten offenbar eine verschworene Gemeinschaft schaffen, außerhalb derer die Voraussetzungen zur Berufsausübung gar nicht erworben werden konnten. Eine Stärkung der Corporate Identity der Ärzte war bei der stetigen Zunahme der Ärzte gewünscht. Schließlich schickte man sich gerade an, die Geschäftsfelder der Heilerinnen und Hebammen zu übernehmen. 1484 war der Startschuss für die „Hexen“-Verfolgungen gefallen.

Trotz des Kults um antike griechische Schriften schlug der Eid allerdings keine Wellen. Bis 1607 übernahmen nur vier weitere deutschsprachige Universitäten das Procedere. In Montpellier, einer der ältesten medizinischen Fakultäten, ist er nicht vor 1804 verbürgt;iv genauso wenig wie in anderen urkatholischen Universitäten. Ein weiteres Indiz, dass die katholische Hälfte Europas mit dem Eid so wenig zu tun hatte, wie nebulöse Gesundheitsgurus im antiken Griechenland. Eine stärkere Verbreitung lässt sich überhaupt erst nach dem Zweiten Weltkrieg nachweisen. Vor allem in Nordamerika kam er dem Bedürfnis nach Legitimation durch eine lange Traditionslinie entgegen.

Heute sind die ursprünglichen Verpflichtungen zwar längst durch das „Genfer Gelöbnis“ von 1948 ersetzt, aber in den Köpfen der Menschen ist der „hippokratische Eid“ immer noch weit präsenter. Selbst die jüngst als Reaktion auf den Corona-Bluff gegründeten „Ärzte für Aufklärung“ beziehen sich noch immer auf die hippokratische und nicht die aussagekräftige und zeitgemäße Genfer Fassung. Die griechische Aura eines humanistischen Geschwurbels ist offenbar verlockender als das traditionsarme nüchterne Bekenntnis zum bedingungslosen Patientennutzen, mit dem die Ärzteschaft in Genf wirklich ein Zeichen setzte.

Hauptsache krank? — Ein neuer Blick auf Medizin in Europa“.

Referenzen

i Steger F: Das Erbe des Hippokrates. Medizinethische Konflikte und ihre Wurzeln. S. 36; Vandenhoeck & Ruprecht; Göttingen 2008

iii Bailey MD: Origins of the Witches Sabbath. Penn State Press; University Park, Pensylvania (USA) 2021

iv Leven KH: Die Erfindung des Hipppkrates – Eid, Roman und Corpus hippocraticum. in Tröhler U, Reiter-Theil S (Hrsg.): Ethik und Medizin 1947-1997. Was leistet die Kodifizierung von Ethik? S. 19-40; Wallstein; Göttingen 1997

Iclandicviking at German Wikipedia, Public domain, via Wikimedia Commons

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wieder. Rechte und inhaltliche Verantwortung liegen beim Autor.

Gerd Reuther ist Facharzt für Radiologie und Medizinhistoriker. 2005 erhielt für seine Leistungen den Eugenie-und-Felix-Wachsmann-Preis der Deutschen Röntgengesellschaft. Er veröffentlichte rund 100 Beiträge in nationalen und internationalen Fachzeitschriften und -büchern sowie fünf Bücher, die sich kritisch mit der Medizin in Geschichte und Gegenwart auseinandersetzen. Ganz aktuell erschienen „Hauptsache krank? — Ein neuer Blick auf Medizin in Europa“.


Unsere Arbeit ist spendenfinanziert – wir bitten um Unterstützung.

Folge TKP auf Telegram oder GETTR und abonniere unseren Newsletter.


Das pandemische Theater

Corona ist nicht vorbei – 2. Coronasymposium der Afd-Fraktion im Deutschen Bundestag

Das Verschweigen von Zahlen in der Medizin

5 Kommentare

  1. Armin Hoffmann 13. Dezember 2023 at 17:58Antworten

    Danke für diese aufklärerische Schrift!!!
    Heucheleien, Lügen christlicher „Gelehrter“ und Kirchenvorsteher, das Geschwafel von christlich-jüdischen Wurzeln öden jeden Freien Geist an. Die Christianisierung Europas, Ketzerverfolgung und Hexenprozesse waren und sind auch heute ein furchtbares Grauen, die Verantwortlichen schmücken sich mit „Karls-Preis“ und laben sich an Pfründen, Diäten, Boni. Damals, wie heute …

  2. Magdalena von Rodelienstein 6. Dezember 2023 at 12:02Antworten

    Es ist schon erstaunlich, wie viele antike Dokumente in der Renaissance aufgetaucht sind, perfekt im Latein der Renaissance kopiert wurden, und anschließend ist das Original dann plötzlich verschollen. Besonders der Kreis um Joseph Justus Scaliger, Sohn von Julius Caesar Scaliger, war sehr eifrig im Auffinden und anschließenden Vernichten historischer Quellen.
    Wenn man’s nicht besser wüsste, könnte man vermuten, dass die Antike eine Erfindung der Renaissance sei …

  3. E. T. 6. Dezember 2023 at 8:02Antworten

    Auszug aus dem Genfer Gelöbnis:
    „Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein. Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren.“ […] Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.“
    Ein Großteil der Ärzte hat während der Pandemie das Genfer Gelöbnis gebrochen. Eigentlich müsste man ihnen die Berufsberechtigung entziehen.

  4. Judith Panther 6. Dezember 2023 at 4:32Antworten

    „Bevor du jemanden heilst, frag ihn, ob er bereit ist, die Dinge aufzugeben, die ihn krank gemacht haben.“
    Dieser Spruch wird ebenfalls Hippokrates zugeschrieben.
    Als Ergebnis aus den Ereignissen während der Coronaziherrschaft ist das mittlerweile der Eid, an den ich mich in der Hauptsache halte, was die Zahl meiner Patienten allerdings sehr reduziert hat.
    Geimpfte zum Beispiel, die sich dem Gedanken verweigern, die Impfung als mögliche Ursache ihrer Beschwerden auch nur in Betracht zu ziehen und Menschen, die keinen Gott haben behandle ich inzwischen nicht mehr – warum?
    Weil: Wenn zutrifft was in der Bibel steht, und zwar: GOTT HEILT!
    sind Gottlose logischerweise sowieso nicht heilbar und man hilft ihnen und auch den Krankgeimpften nicht, wenn man ihnen hilft.
    Das ist nämlich auch ein Problem bei manch erfolgreichem Geistheiler:
    Die Kranken werden geheilt, gehen nach Hause und tun mit neuer Kraft wieder das, was sie überhaupt erst krankgemacht hat, statt die Botschaft ihrer Krankheit zu erkennen. So verlieren sie einfach nur Zeit.
    Was ansonsten noch unter dem Hippokratischen Eid subsummiert wird entspricht im Prinzip den Zehn Geboten, an die sich jeder halten sollte, nicht nur Ärzte.
    Auch das „primum nil nocere“ ist eine banaler Anspruch an den sich nicht nur Ärzte halten sollten.
    Doch gegen diesen Teil des hippokratischen Eides verstößt ja schon der Kinderarzt, sobald er ein Kind impft und jeder Arzt, der ein Pharmaprodukt verordnet, statt dem Kranken dabei zu helfen zu erkennen, was ihn krankgemacht hat.
    Erst wenn das gelungen ist darf man auch mal zu Medikamenten greifen, damit der Mensch überhaupt wieder arbeitsfähig wird und mit „arbeitsfähig“ meine ich die Fähigkeit und Kraft, an der Beseitigung der Probleme zu arbeiten die ihn krankgemacht haben.
    Krankheit ist die Medizin.

  5. […] Kein anderes Dokument ist mehr zum Mythos der europäischen akademischen Medizin geworden. Wir reden vom hippokratischen Eid. Seit Covid haben Sie bewiesen bekommen, was Ihren Diktatoren dieser Eid wert ist. […]

Regeln für Kommentare: Bitte bleibt respektvoll - keine Diffamierungen oder persönliche Angriffe. Keine Video-Links. Manche Kommentare werden erst nach Prüfung freigegeben, was gelegentlich länger dauern kann.

Aktuelle Beiträge