44 Jahre Russland-Erfahrung: Ein „alter Hase“ erzählt

1. Mai 2024von 17,2 Minuten Lesezeit

Klaus Koch, ein deutscher Staatsbürger mit unbegrenzter Aufenthaltsgenehmigung in Russland, lebt seit 1996 dauerhaft im Land. Er kennt Russland bereits seit 1980, als es noch die Sowjetunion gab, und kann daher über die Entwicklungen, die es dort gab, fundiert berichten. Er hat sie seit 1980 alle live und in Farbe miterlebt.

Ich „kenne“ Klaus schon lange virtuell aus Facebook und der gemeinsamen Arbeit für die Friedensbrücke Kriegsopferhilfe, die er mitgegründet hat, traf ihn im März in Moskau erstmals persönlich. Natürlich war von Anfang an auch ein Interview mit ihm geplant. Er fungierte freundlicherweise als Dolmetscher im Museum der deutschen Antifaschisten und beim Gespräch mit dem KZ-Überlebenden Nikolai Andrejewitsch Machutov, so dass wir beide anschließend zu kaputt waren, ein persönliches Interview zu führen. Das haben wir online nachgeholt – Telegram sei Dank.

Das lange Interview haben wir in vier Abschnitten geführt

  • Die Zeit in der Sowjetunion
  • Die wilden Neunziger
  • Die Putin-Ära
  • Der Krieg Russland – Ukraine

Es war ein Gespräch, in dem ich einiges Neues über dieses Land erfuhr, aber auch feststellen konnte, dass wir noch mehr gemeinsame Bekannte haben.

Die Zeit in der Sowjetunion

Kannst Du Dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Klaus Koch, ich bin 1951 in Sachsen im Bezirk Dresden geboren. Ich habe in der DDR die Schule besucht, wurde zum Fernmeldemonteur bei der Post ausgebildet und habe dann an der Militärhochschule studiert. Anschließend war ich als Offizier tätig, zuletzt im Ministerium für nationale Verteidigung.

Wann warst Du erstmals in Russland?

Das war noch zu Zeiten der Sowjetunion von 1980 bis 1985, wo ich mich im Rahmen eines zweiten Studiums in den Bereichen Nachrichtenwesen & Ingenieurtechnik und Militärwissenschaft militärisch weiter qualifizierte.

Wie hast Du die Sowjetunion erlebt?

Wir hatten in der DDR bestimmte Vorstellungen über das Land. Die Sowjetunion war unser großes Vorbild, das überall als erstrebenswert für die Zukunft gepriesen wurde. Als ich dann 1980 nach Leningrad kam, sind viele Illusionen relativ schnell verschwunden.

Ich lernte ein Land kennen, das den sozialistischen Entwicklungsweg sehr konsequent eingeschlagen hatte. Bei der Verstaatlichung der Betriebe und Produktionsmittel war man der DDR deutlich voraus. Genossenschaften wie bei uns in der DDR gab es keine, alles war verstaatlicht. Es gab auch keinen Privatbesitz an Grund und Boden.

Aber für mich war es ein kleiner Schock, da die Lebensbedingungen in der Sowjetunion für die Menschen im Vergleich zur DDR-Bevölkerung relativ schlecht waren. Das Warenangebot war rudimentär. Vieles fehlte, angefangen bei Möbeln, es gab noch längere Wartezeiten für PKWs als bei uns. Das Sortiment an Lebensmitteln war beschränkt und es gab wesentlich weniger Einkaufsmöglichkeiten. Größere Kaufhäuser fand ich nur im Zentrum.

Wie sind die Menschen damit umgegangen?

Sie waren gar nicht so unzufrieden, denn sie lebten in dem Rahmen, in dem sie aufgewachsen waren. Und nach dem Krieg war ja fast alles eine positive Entwicklung. Es gab Wohnungen für alle – wenn auch noch viele Kommunalwohnungen (Wohngemeinschaft für mehrere Familien), was für uns in der DDR nicht mehr vorstellbar war. Es gab aber keine Obdachlosen, keine echte Not, wie in den harten Jahren vorher. Der Staat hatte nach dem Zweiten Weltkrieg andere Prioritäten als den schnellen Wohlstand der Bevölkerung. Das Wettrüsten hatte seinen Preis. Und leider hat sich das im Laufe der 80iger Jahre nochmals rapide verschlechtert.

Inwiefern?

In den Jahren 83 und 84 wurden Lebensmittel zugeteilt und die Läden waren teilweise ziemlich leer. Die Versorgung der Bevölkerung wurde oftmals über die Betriebe organisiert. Als Militärstudenten wurden wir über die Akademie betreut, ebenfalls meine Familie meine Frau und meine beiden Söhne, die 1982 nachbekommen waren. Wir lebten fast luxuriös im Norden Leningrads in einer Neubauwohnung. Die Anlage, gebaut von der Akademie, wurde an uns Auslandsstudenten vergeben. Damit waren wir privilegiert im Vergleich mit den russischen Kommilitonen, die die ganze Zeit im Wohnheim untergebracht waren.

Warum hat sich die Situation damals so dramatisch verschlechtert?

Genau kann ich das nicht sagen. Das Wettrüsten war wohl ein Aspekt. Star Wars aufgrund des SDI-Programms der USA hatte katastrophale Auswirkungen auf Russland. Da ist viel Geld reingeflossen, was für die Bevölkerung dann fehlte.

Wurde es mit Gorbatschov dann besser?

1985 kam Gorbatschov an die Macht und begann mit Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) . Das war in meinen Augen eher propagandistisch, denn wirkliche Offenheit gab es keine. Im populistischen Kampf gegen Alkoholismus wurden im Süden und im Nordkaukasus Weinplantagen abgeholzt, sowas wurde „hart“ durchgezogen, aber das hatte auf das Leben der Menschen keinen positiven Einfluss. Es gab keine wesentlich verbesserte Versorgung, keine besseren Lebensbedingungen, kein Licht am Horizont. Die Lage wurde erst etwas besser, als die Kredite aus dem Westen kamen.

Denn was es wirklich gab, war die ausgeprägte Annäherungspolitik an die USA. Gorbatschov hatte die Illusion, man könnte mit den USA freundschaftliche Beziehungen aufbauen und so die Weltpolitik beeinflussen. Das wurde auch innerhalb der Sowjetunion von vielen positiv gesehen – Gorbatschov öffnete das geschlossene System. Aber das war eben eine Illusion. Die USA hatten das Ziel, die Sowjetunion zu zerstören.

Wie das?

Sie haben sehr harte Wirtschaftsmaßnahmen durchgeführt. Der Ölpreis sank – künstlich aber rapide. Und daran hing die sowjetische Wirtschaft. Das Ziel der USA, das Einkommen des Landes zu schmälern, stand im Vordergrund. Damit ist ihnen letztlich die Zerstörung des Landes gelungen.

Wie ging es bei Dir weiter?

Ich bin 1985 in die DDR zurückgegangen und war wieder im Ministerium für Nationale Verteidigung als Abteilungsleiter und Nachrichtenspezialist tätig.

Die wilden 90-iger Jahre

Wie hast Du die Wende erlebt?

Das war für mich keine Wende, das war eine Konterrevolution, die zielgerichtet, propagandistisch und finanziell von westlichen Geheimdiensten organisiert wurde – so mein gesicherter Wissenstand aus meiner früheren Tätigkeit. Die feindliche Übernahme der DDR war für mich sehr schmerzhaft.

Kannst Du erklären warum?

Der Untergang der DDR bedeutet auch meinen ganz persönlichen Crash. Meine gesamte bisherige politisch, ideologische Einstellung, meine gesamte berufliche Karriere und meine ökonomischen Grundlagen – mein Eigentum – wurden zerstört.

Warst Du in der DDR so wohlhabend?

Mein Besitz war ein Teil des Volkseigentums, das wir alle gemeinsam in den letzten 40 Jahren geschaffen hatten. Dieser wurde ohne irgendeine Kompensation einfach enteignet. Die Treuhand hat das Vermögen der DDR mal auf 600 Mrd. Euro geschätzt, das sind 1,2 Billion Westmark. Wenn man das auf 16 Mio. Einwohner umlegt, sind das 75.000 DM pro Einwohner der DDR. Man hat mir angeboten meine für 56 Ostmark monatlich gemietete Wohnung zu kaufen. Für 80.000 Westmark. Die Entschädigung hätte knapp gereicht, aber man hatte mich ja enteignet – wie alle Menschen im Osten.

War das der Grund auf Dauer wieder nach Russland zu gehen?

Nein. Das hat sich durch meine berufliche Neuorientierung nach und nach entwickelt. Zunächst war ich im Außendienst tätig, das mündete dann aber in der Gründung einer eigenen Firma. Ich habe mich auf den Export von Waren nach Osteuropa konzentriert – ein rasant wachsender Markt. Daher war ich ab 1992 wieder regelmäßig in Russland.

Wie hast Du Russland zu dieser Zeit erlebt?

Die neunziger Jahre bedeuteten die wirkliche Öffnung des Landes. Schon die Grenze war Wahnsinn. Es gab kaum Grenzkontrollen. Ich bin meist mit dem Auto gefahren, reiste mit Touristenvisum ein und konnte zwei Monate bleiben. Es hat keinen interessiert.

Gerade Menschen, die wie ich einen gehobenen Bildungsstand und Unternehmergeist hatten und im alten sowjetischen System keine große Perspektive sahen, waren in Aufbruchstimmung. Der Umbruch in Richtung Privatkapitalismus, die Möglichkeit eigene Firmen gründen zu können, das war sehr positiv.

Gemeinsam mit einem russischen Ingenieur für zivile Nachrichtentechnik habe ich in Leningrad 1993 ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet. Er brachte die Kunden, ich die Lieferanten aus dem Westen. Das war damals recht einfach. Im Westen waren alle am russischen Markt interessiert und im Osten wurde alles gebraucht. Für alles, was ich liefern lassen konnte, gab es Bedarf. Einmal haben wir aus Ägypten eine Schiffsladung mit Apfelsinen importiert, dann gab es Barter- aber auch Ringtauschgeschäfte. Es war wild. Das ging so bis 1995 – dann gab es direkte Kontakte, die Vermittler wie uns überflüssig machten.

Wie ging es dann für Dich weiter?

Da die Entwicklung absehbar war, wurde ich ständiger Vertreter für eine Firma, für die ich den russischen Markt aufgebaut und bearbeitet habe.

Du sagtest vorhin, Menschen mit Unternehmergeist waren begeistert. Wie ging es denn den anderen?

Ich schätze, nur 2% aller Menschen sind von ihrer Einstellung her in der Lage, eine Firma zu gründen und aufzubauen, 98% machen mit. Diesen 98% ging es in der Zeit extrem schlecht.

Es gab zwar langsam immer mehr Waren, auch Gebrauchsgüter wie Pampers kamen auf den Markt, aber die Menschen waren teilweise bitterarm. Der kapitalistische Aufbruch war begleitet vom Umbruch in der Industrie. Es kam zur Privatisierung – 90% davon geschätzt auf kriminellen Wegen. Die größten Kriminellen machten die größten Geschäfte – Konkurrenten verschwanden vom Markt – ich meine physisch. Die waren auf einmal verschwunden. Das waren teilweise extreme Mafiamethoden. Als ausländischer Unternehmer musste ich sehr vorsichtig sein.

Parallel dazu entwickelte sich eine „Schutzgesellschaft“ – Schutzgelderpresser – die bis zu 50% des Gewinns kassieren wollten. Das zog sich leider durch bis zur Polizei. Die Korruption innerhalb der Polizei war sehr verbreitet. Und auch die extra neu gegründete Korruptionsbekämpfungsbehörde hatte Defizite – um das mal vorsichtig zu sagen. Die Zustände waren nicht schön.

In der Jelzin-Ära wurden die großen Staatsbetriebe unter den verantwortlichen Funktionären der Komsomol verteilt, die mit ihren 30-40 Jahren im besten Alter für unternehmerisches Handeln waren. So wurde Michail Chodorkowski zum reichsten Mann Russlands. Das Yukos-Imperium ist ja auch im Westen bekannt.

Es gab aber keine echte Wirtschaftspolitik jenseits der Öffnung nach Westen, um Kapital aus dem Westen zu beschaffen. Das Steuersystem war schlecht entwickelt, der schwarze Sektor, wo alles nur schwarz bezahlt wurde, war gang und gäbe. Das führte dazu, dass der Staat keine Einnahmen hatte und damit letztlich 1998 in den Staatsbankrott. Der Rubel hatte innerhalb eines Tages nur noch 1/10 seines Wertes. Das war für mich – wieder mal – ein totaler Crash.

Warum das?

Zu dieser Zeit arbeitete ich bereits ohne Vorauszahlung mit vier Wochen Zahlungsziel. Aber das, was die Kunden zahlten, war auf einmal nur noch 10% wert. Ich habe an einem Tag 500.000 DM verloren. Das war mein gesamter erarbeiteter Gewinn plus ein Berg an Schulden. Aber mir ging es noch gut. Viele Menschen sind verhungert, es waren wirklich katastrophale Zustände.

Die Putin-Ära

Ist das eine Erklärung dafür, dass die Russen mehrheitlich von Präsident Putin so überzeugt sind?

Vermutlich ja. Mit dem Jahr 2000 änderte sich ja alles. Ich werde es nicht vergessen: Ich saß mit meiner Frau am Fernseher, Jelzin trat auf und sagte „ich trete zurück“. Das war der 1.1.2000 – wir haben uns alle darüber gefreut, dass dieser untragbare alte Säufer endlich weg war. Er hat Russland wirklich den Rest gegeben.

Putin hat zuerst das Führungssystem gerändert und hierarchisiert. Das betraf die Führung der Oblaste, die autonomen Republiken und auch Justizsystem und Polizei. Das wird jetzt zentral geführt. Dann wurden Schritte zur Stabilisierung der Finanzen eingeleitet. Große Teile der Naturreichtümer wurden wieder verstaatlicht. Die Oligarchen und die USA waren damit draußen, wobei alle materiell entschädigt wurden. Chordokowsky bekam meines Wissens mehrere Milliarden Dollar. Die sind alle nicht als arme Leute gegangen. Alles wurde schrittweise zum Vorteil der Menschen stabilisiert. Mit seiner eigenen Partei – Geeintes Russland – hat er dann im Parlament die absolute Mehrheit erreicht. Anfangs hat er an der nach Westen orientierten Politik auch nichts geändert.

Wie war das für Dich in Russland wahrnehmbar?

Russland blieb zunächst eben sehr west- und deutschlandoffen. Das war eine fast freundschaftliche Beziehung. In den täglichen Meldungen in Russland wurde Deutschland immer als Partner und Freund dargestellt.

Das hat mir als Unternehmer geholfen, ich wurde freundlich aufgenommen, überall empfangen, konnte Geschäftsabschlüsse tätigen. Große deutsche Unternehmen investierten in Russland, bauten Fabriken. VW errichtete 2007 oder 2008 ein Werk in Kaluga mit einer Produktion von 150.000 Fahrzeugen für den Binnenmarkt. Aber auch Mercedes, BMW, Siemens und Bosch waren aktiv. In Russland waren über 1400 deutsche Unternehmen unterschiedlicher Größe vertreten. Die Produktion bei uns – ich war 2010 für Aufbau und Betrieb eines Zuliefererbetriebs für VW verantwortlich – sicherte auch Arbeitsplätze in Deutschland. Wir importierten Teile aus Deutschland und machten daraus komplexere Bauteile. Die Endfertigung war dann in Kaluga.

Das lief bis 2015 sehr erfolgreich. Aber dann begann für mich erneut ein anderes Leben.

Was war der Grund für die Veränderung? Lass mich raten: Ukraine?

Ja. Der Putsch 2014 in Kiew hat mich richtig erschüttert. Ich kenne die Ukraine sehr gut, habe viele Freunde dort. Es sind Menschen wie ich sie aus Russland kenne. Ich habe mich dann damit beschäftigt, wie und warum das passiert konnte. Durch Kontakt zu Mark Bartalmai wurde mir einiges klar. Ok, der Westen der Ukraine war schon immer etwas anders. Die Nazis vom Maidan waren später ja auch in Odessa.

Mark Bartalmai hat auch mich sehr geprägt. Erst durch seine Filme „Ukrainian Agony“ und „Frontstadt Donezk“, dann durch einige lange Gespräche, die wir aufgrund der Druschba-Friedensfahrt in Berlin aber auch privat geführt haben. Das hat mein DDR-Bild „leicht“ verändert. Wie ging es bei Dir weiter?

Als es zur Eingliederung der Krim kam, war mir klar, dass das Probleme macht, dass es ein Fehler war. Meine Prognose, die sich bestätigt hat: jetzt werden die Verbindungen zu Deutschland radikal zusammenbrechen. Deutschland stand auf der anderen Seite.

2015 zum 70igsten Jahrestag der Befreiung kam Frau Merkel nicht nach Moskau. Durch Zufall fand ich die Gruppe von Evelyn Pietza, die deswegen gemeinsam mit anderen eine Friedensfahrt nach Moskau zum Tag des Sieges organisiert hat. Da war auch Liane Kilinc dabei. Eine Gruppe aus Braunschweig brachte Geld mit und wir haben die erste Solidaritätssendung in den Donbass organisiert. Das war der Beginn der Friedensbrücke – praktisch. Im Sommer kam ich nach Wandlitz und wir haben dann gemeinsam die Friedensbrücke gegründet.

Als Unternehmer hatte ich Erfahrungen im organisatorischen Bereich und konnte als Ansprechpartner in Moskau agieren, gemeinsam mit der russischen Seite vieles organisieren.

Was zum Beispiel?

Wir haben die erste Evakuierung von Kindern aus dem Kriegsgebiet ins Ferienlager nach Russland, konkret Rostov am Don organisiert. Abgestimmt mit örtlichen Organisationen im Donbass kamen die Kinder aus den Frontgebieten in Begleitung von Mutter oder Oma in das Pionierferienlager. Für die Schule, die es dort gab, haben wir Lehrer aufgetrieben, denn die Kinder gingen erst zurück, sobald die Kämpfe in ihrem Gebiet etwas nachließen. Das war alles sehr aufwendig aber auch sehr wichtig.

Warst Du auch mal wieder in Deutschland?

Ja, 2020 das letzte Mal – und hing dann wegen Corona fast 1,5 Jahre dort fest. Ich kam nicht über die Grenze. Erst als es mit den Impfungen losging, war die Rückkehr möglich. Ich musste mich impfen lassen, um wieder nach Hause zu meiner Familie zu kommen. Es hat keinen Sinn, sich im Nachhinein darüber aufzuregen. Es ist vorbei, ich schaue einfach in die Zukunft. Außerdem hat mir eine Zigeunerin als Kind schon vorhergesagt, dass ich 120 Jahre alt werde.

Der Krieg Russland – Ukraine

Wie ging es beim Kriegsbeginn für Dich weiter?

2022 war ich bereits Rentner. Der 24.2.2022 machte alles kompliziert. Der Krieg hat zum Ende von Corona geführt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Zuhause – ohne Zaun – eingesperrt. Freiwillig, man brauchte keinen Stacheldraht. Putin hat im Februar 2022 einen Schritt unternommen, der die Medien Corona vergessen ließ. Sie hatten ein neues Thema, das sie mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, propagierten.

Die Mittel?

Lug, Trug, Geschichtsverfälschung … Das haben sie während der Corona-Zeit trainiert. Die Gleichschaltung der Medien auf die Staatsdoktrin der BRD-Regierung, die sich seitdem eindeutig als abhängiger Vasall der USA offenbart.

Wie haben die Russen auf den Kriegsbeginn reagiert?

In Russland brachte dieser für viele unerwartete, begrenzte militärische Einsatz der russischen Armee im Donbass sehr unterschiedliche Reaktion hervor.

Ich glaube, die Mehrheit der sogenannten Intelligenz brachte großes Unverständnis zum Ausdruck, während die Mehrheit der „einfachen“ Menschen, sofort hinter der Entscheidung stand. Geschätzt waren wohl 60% für den Einmarsch.

Warum?

Nun, diese 60% haben die Situation der letzten neun Jahre in der Südostukraine gesehen. Sie wussten um den ständigen Beschuss der Bevölkerung, die Terrorangriffe, aber auch die Verfolgung der Opposition in der westlichen Ukraine und dem Verbot der russischen Sprache. Die „Intellektuellen“ hatten „liberale“ Ansichten. Denen war auch bewusst, dass ein Krieg für sie eine Verschlechterung ihrer eigenen Lebenssituation bedeuten wird, da er die positive Beziehung zum Westen endgültig beendet.

Jetzt – ca. 2 Jahre später – hat sich das Verhältnis verändert, wie das die Präsidentschaftswahl praktisch gezeigt hat. 82% haben den Präsidenten gewählt, der aus Sicht des Westens ganz willkürlich einen Krieg angefangen hat. Es hat Zeit gebraucht, dass mehr Russen bewußt wurde, was im Westen wirklich los ist.

Worauf führst Du das zurück?

Man muss berücksichtigen, dass Russland in den letzten 30 Jahren eine Phase des wilden Kapitalismus mit einer Totalöffnung nach Westen hinter sich hat. Das hat auch das gesamte Bildungssystem verändert.

Seit 1990 ist das Fach Marxismus/Leninismus an allen Hochschulen abgeschafft, selbst in der philosophischen Ausbildung ist Marx gestrichen. Das hat Auswirkungen. Das „neue“ vom Westen unterstützte Bildungssystem hat das Ziel, hochqualifizierte Fachkräfte auszubilden, diese dann abzuwerben oder im Inland als Opposition zu nutzen. Viele gut ausgebildete Ingenieure und IT-Spezialisten sind in den letzten 20 Jahren nach Deutschland oder in die USA ausgewandert. Aber damit ist jetzt Schluss und das ist gut für die Entwicklung in Russland.

Wie sieht die Entwicklung aus?

Das naturwissenschaftliche Hochschulwesen hat in Russland immer noch Höchststand, die Ausbildung im Bereich Mathematik ist immer noch Spitzenniveau. Im Westen wird sich noch mancher wundern, wie schnell das hier in Russland zu praktischem Fortschritt führt.

Derzeit entstehen hier ein völlig neuer Flugzeugbau als Industriebereich und eine eigene Micro-Elektronik. Werften wurden reaktiviert und der Schiffbau wird massiv vorangetrieben. Vor zwei Wochen wurde die größte Trägerrakete der Welt erstmals erfolgreich getestet – das Mondprogramm Russlands nimmt Formen an. Niemand sollte Russland unterschätzen und ich hoffe, dass wir auch zu Deutschland wieder ein ähnlich positives Verhältnis aufbauen können wie das bis 2015 der Fall war, so dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit wieder funktioniert.

Kannst Du nach Deutschland problemlos einreisen?

Für mich ist das problemlos, aber für meine russische Frau stellt sich das „etwas“ schwierig dar.

Inwiefern?

Wir wollten einen Monat Urlaub machen, aber ich bekam von der deutschen Botschaft die Mitteilung, dass man derzeit eine Verpflichtungserklärung wegen „Personalmangels“ in der Botschaft nicht ausstellen kann. Die ist aber notwendig, da sie sonst kein Visum bekommt. Ich muss also jetzt nach Deutschland reisen, dort die Erklärung ausfüllen, ihr das Original zuschicken damit sie dann den Visumantrag einreichen kann. In der Vergangenheit ging es ohne diese Erklärung, aber die EU ist jetzt von allen Vorzugsvereinbarungen zurückgetreten.

Dabei geht Russland mit gutem Beispiel voran und hat den Visumsprozess sogar während des Krieges massiv vereinfacht. Sie ermöglichen uns Deutschen die Einreise ohne Einladung nur mit E-Visum.

Den Familienangehörigen wird das Leben durch Deutschland schon länger schwer gemacht. Mein Stiefsohn konnte mich schon während des Lockdowns nicht besuchen – das Visum wurde einfach abgelehnt. Der deutsche Staat steht Russland feindselig gegenüber – und auch allen, die die Feindschaft nicht teilen. Und das, obwohl wir ja eigentlich nicht im Krieg mit Russland sind.

Dann hoffe ich nur, dass es nie zu einem heißen Krieg zwischen den beiden Ländern kommt.

Bildquelle: Exponat aus dem Museum der deutschen Antifaschisten in Moskau, wo Klaus für mich als Dolmetscher fungierte.


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5 Kommentare

  1. Mauvien Walcher 2. Mai 2024 at 6:19Antworten

    Persönlich glaube ich, dass die deutsche Politik im tiefen Inneren den Russen noch immer den Sieg gegen die NS sehr übel nehmen. Denn anders ist diese Hetzte gegen die Retter der freien Welt nicht zu erklären.

    • Konrad Kugler 2. Mai 2024 at 17:28Antworten

      Genau das glaube ich nicht. Mit der Aufkündigung des Warschauer Paktes wurde die NATO zu einem Kriegsbündnis gegen Rußland. Dementsprechend wurde auch immer weiter von einer Gefahr gemunkelt..Dabei blieb allen Leuten aber unerklärt, das die US-NATO systematisch Rußland einkesseln.
      Die Menschen wurden von den Medien völlig falsch informiert und so ist mir aufgefallen, daß vernünftige Leute wegen des „Angriffskrieges“ völlig verrückt spielen. Absolut unzugänglich.
      Obwohl ich als 13-Jähriger 1956 Antisowjet geworden bin und immer politisch interessiert war, ist mir erst letztes Jahr durch einen ganz banalen Satz aufgegangen, welch verbrecherische Außenpolitik die United States betreiben. „Der Amerikaner ist konservativ. Er will eine Waffe haben“. Dagegen stehen all die freimaurerischen, staatlichen Symbole.

  2. Bernhard 1. Mai 2024 at 13:44Antworten

    Sehr aufschlussreich!
    Vielen Dank dafür, dass sie diese andere Seite Europas so differenziert und glaubwürdig zu Wort kommen lassen.

  3. Peter Ruzsicska 1. Mai 2024 at 11:42Antworten

    Da ich mich selbst im Jahre 1988 aus beruflichen Gründen in Moskau kurz aufhielt und selbst mit den technisch politischen Problemen der damiligen Zeit im Rahmen meiner beruflichen Situation konfrontiert war, als auch durch einige Hintergrunderlebnisse bereits in Wien die Lage bez. damaliger Technologietransferpraxis u. a. auch in Verbindung mit einem mutmaßlichen Geheimdienstmit- bzw. Zuarbeiter im Rahmen der russischen Handelsvertretung etc. zwischen Moskau und Wien selbst bezeugen kann, erweisen sich für mich die im Artikel geschilderten Darstellungen als 100% zutreffend.
    Danke für dieses hervorragend informative und seriöse Interview!

  4. helmutmichael 1. Mai 2024 at 9:26Antworten

    Danke für diese Einblicke, Fr. Drescher

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