Wie wird unser aller Risiko stationärer Pflegefall zu werden gemanagt?

3. Januar 2024von 7,2 Minuten Lesezeit

Ein erheblicher Abbau angesparten Vermögens ist bei Eintritt von stationärer Pflegebedürftigkeit für die Betroffenen sowie deren Ehepartner bereits heute zu verzeichnen. Im Durchschnitt lag der zu leistende Eigenanteil pro Monat trotz Zuschüssen bundesweit bei ungefähr 2500 Euro im ersten Jahr.

In Pflegeheimen der Caritas München und Oberbayern steigt er sogar bis zu 4000 Euro. Auch mit den von der Ampelregierung beschlossenen steigenden Zuschüsse für das Pflegegeld seit diesem Jahr wird mit einer Verschärfung der Pflegesituation und der Kosten in Zukunft gerechnet. Die Herausforderungen an unsere soziale Pflegeversicherung sind enorm und seit Jahrzehnten bekannt. Ab 2030 wird ein steiler Anstieg der Pflegebedürftigen stationärer Einrichtungen prognostiziert. Der Pflegekräftemangel wird voraussichtlich weiter ansteigen.

Laut Boris Augurzky vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung wird in der Zukunft „nicht jeder „sofort“ einen Pflegeplatz erhalten (1). Schon jetzt führen die zu bezahlenden Eigenanteile der stationär Gepflegten zu einem erheblichen Abbau angesparter Vermögen. So stieg der durchschnittliche Eigenanteil mit Zuschüssen bundesweit von 2.200 Euro (2022) auf 2.548 Euro (2023) pro Monat im ersten Jahr variierend nach Bundesland, Grad der Pflegestufe, Einbett/Doppelbettzimmer und konkreter Einrichtung. Im zweiten Jahr ist die Eigenbeteiligung im Durchschnitt 2.299 Euro hoch (2).

Die Auswertungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK zeigen, dass die Eigenanteile von 2021 auf 2022 um 24 Prozent gestiegen sind sowie im ersten Halbjahr 2023 einen weiteren Anstieg um knapp acht Prozent verzeichnen (3).

Der Eigenanteil kann regional auch beträchtlich höher liegen. So erklärte die Geschäftsführerin für den Bereich der Altenheime der Caritas Doris Schneider, dass der Eigenanteil in Pflegeheimen der Caritas München und Oberbayern auf bis zu 4000 Euro steigt (4). Auch das Sozialreferat von München zeigt in seinen Berichten eine sehr deutliche Steigerung des Gesamteigenanteils einer vollstationären Pflege in den letzten vier Jahren. Ohne Zuschüsse lag der Median des Eigenanteils im Einzelzimmer 2022 bei 3.153 Euro (2018: 2.511 Euro) im Zweibettzimmer bei 2.975 Euro (2018: 2357 Euro). Die Quote der Einzelbettzimmer lag immerhin bei ca. 80 Prozent (5).

Auf der Website weisse-liste-pflege.de (6) kann jeder persönlich einen Anhaltspunkt finden, wie hoch der Eigenanteil für sich oder seine Angehörigen derzeit bei der für ihn am nächsten liegende Einrichtung ist. Diese Datenbank wird gepflegt durch die Pflegekassen. Am häufigsten tritt laut der Stiftung ZQP der Fall der Pflegestufe 3 ein, gefolgt vom Pflegegrad 4 und 5 (7).

Die Preise für den Eigenanteil sind laut vdek 2023 wegen Inflation, höherer Energiepreise sowie Löhne der Pflegekräfte gestiegen. Diese höheren Kosten für die Pflegekräfte wurden vor allem auf die Pflegebedürftigen und deren Angehörigen umgerlegt. Zudem sind im Eigenanteil Investitionskosten der Heime sowie Ausbildungskosten enthalten. Die Vorstandsvorsitzende der AOK Dr. Carola Reimann vertritt die Ansicht, dass Ausbildungskosten herausgenommen und auch die Investitionskosten eigentlich Aufgaben der Länder wären (3). Weitere Kostenpunkte sind Verpflegung und Mieten, die auch zu starken Unterschieden in den Regionen führen.

Wie wird jetzt auf politischer Ebene diesem Thema begegnet?
Im Koalitionsvertrag der Ampel stand 2021 noch das Ziel einer Vollversicherung (im Gegensatz zum heutigen System der Teilversicherung) sowie der Reduktion und Planbarkeit der Eigenanteile. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat die Pflegereform „vorangebracht“ und das deutsche Pflegesystem als „großartig“ (8) gelobt. Konkret wurden bisher die Beiträge für die Pflegeversicherung um 3,05 Prozent des Bruttolohns auf 3,4 angehoben; dabei gelten für Kinderlosen höhere Beiträge. Ab 2024 sollen die Zuschläge zu den vollstationären Heimkosten steigen bei einer Pflegedauer

  • bis zu 12 Monaten: von 5 auf 15 Prozent(Leistungszuschlag zu den pflegebedingten Kosten)

  • bis zu 24 Monaten: von 25 auf 30 Prozent

  • bis zu 36 Monaten: von 45 auf 50 Prozent

  • mehr als 36 Monate: von 70 auf 75 Prozent (9)

Anzumerken ist, dass die höheren Absenkungen des Eigenanteils um beispielsweise 75 Prozent der pflegebedingten Kosten (nicht der Gesamtkosten) für die meisten nicht zutreffen wird. Die durchschnittliche Pflegedauer beträgt nach der Stiftung ZQP (Pflegestatistik 2021) 2,5 Jahre. Die oben genannte Geschäftsführerin Caritas nennt als durchschnittliche Verweildauer 12 bis 18 Monate.

Weiter in Planung ist die Streichung des Bundeszuschusses zur sozialen Pflegeversicherung, die den Beitragszahler entlasten sollte, bis 2027 (10). Auch hinsichtlich der enormen Leistung von Angehörigen, die 80 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause pflegen, sollen deren Rentenbeiträge, obwohl versicherungsfremde Leistungen, nicht aus Steuermittel finanziert werden, sondern weiter die Pflegekasse belasten. Nach Meinung der meisten politischen Akteure handelt es sich insgesamt um keine nachhaltige Konzeption; es sollen weitere Reformen kommen (8).

Ein Gutachten des wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) von 2022 erörtert die Möglichkeit des Gesetzgeber erwerbsfähige Bürger zu einer obligatorischen, privaten Zusatzversicherung mit Kapitaldeckung zu verpflichten. In diesem Gutachten können wir lesen, dass insbesondere für die Babyboomer es als zumutbar angesehen wird, ihr Vermögen einzusetzen und „zeigt auf, wie es gelingen kann, dass (diese)….einen größeren Teil der von ihr benötigten Pflegeleistungen durch Kapitaldeckung selbst finanziert“. Befürwortet wird auch „eine gesetzliche Pflicht zur Dynamisierung in regelmäßigen Abständen“. In der Datenanalyse wird zudem festgestellt, dass die Sparquote der Rentner noch hoch ist und nach Rentenbeginn in etwa gleich bleibt. Ziel ist „eine Umverteilung nicht von Jung zu Alt, sondern von Reich zu Arm innerhalb jeder Generation…(mit) Übergangsregelungen“ (11).

Für diejenigen, die den Eigenanteil nicht mehr selbst zahlen können (Schonvermögen liegt bei 10.000 Euro für Alleinstehende, 20.000 Euro für Ehepaare) kommt nach Antragstellung das Sozialamt dafür auf. Für ein bestehendes Nießbrauchsrecht wird ein fiktiver Betrag eingesetzt, der zu dem Einkommen zählt.

Grundbesitz des Pflegebedürftigen sowie des Ehepartners können gegebenenfalls herangezogen werden, beispielsweise wenn die Größe der Wohnung und des Hauses nicht „angemessen“ ist – je nach Einzelfall (12). Bereits jetzt liegt nach der o.g. Geschäftsführerin der Caritas der Anteil derjenigen, die auf Subventionsleistungen angewiesen sind, bei etwa einem Drittel der stationären Pflegefälle (4). Da das durchschnittliche Nettoeinkommen in Deutschland laut Statista aller Arbeitnehmer im Jahr 2022 monatlich 2.244 Euro betrug (13), wird in Zukunft die Mehrheit der Pflegebedürftigen nach SGB XII den vollen Betrag aus der Pflegekasse benötigen.

Ein weiteres Problem ist der ebenfalls seit sehr vielen Jahren bekannte Pflegekräftemangel. Befürchtet wird, dass die wenig gut bezahlten Arbeitsplätze mit hohen körperlichen sowie psychischen Belastungen und Nacht- sowie Spätschichten wenig attraktiv für Arbeitnehmer bleiben. Vorgeschlagen wurde von Boris Augurzky vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung für die Zukunft eine weitere Absenkung des Anteils der Fachkräfte, eine Erhöhung des Anteils der zu betreuenden Pflegende für die einzelne Pflegekraft sowie der Einsatz von Technologie/KI zur Unterstützung der Pflegekräfte (1).

Begrüßenswert sind natürlich Projekte und Schulungen zu den Themen Gewaltpräventionen, sexualisierte Gewalt, freiheitsentziehende Maßnahmen sowie Aktion saubere Hände in den Pflegeheimen. Weitere Problemfelder sind die laufenden Insolvenzen der Pflegeheime; 2023 waren es laut Ärzteblatt täglich zwei die Insolvenz anmelden oder schließen mussten (14). Auch mit Sorgen sollten wir auf den ambulanten Pflegebereich schauen, so berichtet der Paritätischen Gesamtverband, dass „Pflegebedürftige aus Geldmangel auf notwendige Leistungen verzichten“ um ihre Familien nicht zu belasten (15).

Zahlreiche Fragen bleiben offen:

  • wie wird die Pflege im Falle eigener Pflegebedürftigkeit oder unserer Angehörigen gestaltet?

  • Welche (überarbeiteten, schlecht bezahlten, evtl. wenig geschulten) Pflegekräfte werden für uns sorgen?

  • Werden die Projekte gegen Gewalt und für besser Hygiene erfolgreich sein?

  • Werden wir noch Einzelbettzimmer zugeteilt bekommen?

  • Kann man den Pflegeplatz behalten?

  • Ist eine erarbeitete oder geerbte Wohnung/Haus von der Größe „angemessen“ oder müssen wir diese für die Pflege veräußern?

Quellen:

  1. https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-1282604.html

  2. https://www.vdek.com/presse/pressemitteilungen/2023/pflegeheim-finanzielle-belastung-steigt-kontinuierlich.html

  3. https://www.aok.de/pp/bv/statement/pflegekosten/

  4. https://www.ovb-online.de/rosenheim/kolbermoor/pflegeversicherung-heimkosten-eigenanteil-fuer-pflegeplatz-bis-zu-4000-euro-teure-pflege-caritas-muenchen-oberbayern-92709983.html

  5. https://www.muenchen.info/soz/pub/pdf/682_13ter_Marktbericht_Pflege.pdf

  6. https://www.weisse-liste-pflege.de/

  7. https://www.zqp.de/schwerpunkt/stationaere-pflege/

  8. https://www.welt.de/politik/deutschland/article245567074/Lauterbachs-Pflegereform-Fuer-alle-pflegenden-Angehoerigen-eine-grosse-Enttaeuschung.html

  9. https://www.test.de/Pflegereform-Hoehere-Beitraege-mehr-Geld-fuer-Pflegebeduerftige-5999460-0/

  10. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/145235/Bundeshaushalt-Kritik-an-geplanten-Kuerzungen-bei-Pflegeversicherung

  11. https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/nachhaltige-finanzierungen-von-pflegeleistungen-2131406

  12. https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/pflege-im-heim/sozialhilfe-wann-sich-das-sozialamt-an-pflegekosten-beteiligt-55159

  13. https://de.statista.com/themen/293/durchschnittseinkommen/#topicOverview

  14. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/148299/Zwei-Pflegeeinrichtungen-pro-Tag-mussten-Insolvenz-anmelden-oder-schliessen

  15. https://www.zeit.de/gesundheit/2023-07/pflegekosten-beduerftige-verzicht-behandlung-paritaetischer-gesamtverband

Strelitzius, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wieder. Rechte und inhaltliche Verantwortung liegen beim Autor.

Tia Heuboden (Pseudonym) ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet in eigener Praxis für Psychotherapie.


Unsere Arbeit ist spendenfinanziert – wir bitten um Unterstützung.

Folge TKP auf Telegram und GETTR


Pflegeethik Initiative: Corona-Schutz  ein einziges Desaster und ethisch/menschlich zu keiner Zeit vertretbar

Unterstützung für Pflegekräfte

3 Kommentare

  1. Andreas I. 3. Januar 2024 at 20:39Antworten

    Hallo,
    „Wie wird unser aller Risiko stationärer Pflegefall zu werden gemanagt?“

    Liberalismus, alles muss privat sein.
    Das gesamte „Gesundheits“system wird von privaten Akteuren für ihre eigenen Interessen strukturiert und die Geldgewinne dieser privaten Akteure sind um so größer, je früher jemand zum Pflegefall wird.
    Also müsste man ein Schelm sein, um anzunehmen, dass das das Ziel sein könnte.

  2. rudifluegl 3. Januar 2024 at 19:21Antworten

    Da hatte doch einer meiner Freunde schon den Vorschlag für Selbsthilfegruppen!
    „Wie gestalte ich meinen erweiterten Selbstmord so, dass ich den Nachkommen und der Gesellschaft auf ultimative eigennützige Art auf möglichst erfolgreiche Weise, helfe!“

  3. Gabriele 3. Januar 2024 at 11:43Antworten

    Situation in Deutschland – tragisch…. In Österreich sehr anders, hier spitzt man vor allem auf das Vermögen alleinstehender Menschen, die am besten schon mit 50 ins Heim verschwinden und dem Staat ihr Vermögen am besten gleich direkt vermachen sollen. Ein Haus bzw. Eigentum zu besitzen, gilt etwa im Sinne des Great Reset sowieso nicht mehr als angemessen – schon gar nicht für Einzelpersonen. Am Land ganz schlimm…wer sich keine 24-Stunden-Betreuung leisten kann, für den wird es „Tschüss“ heißen, sobald man nicht mehr kann. Nicht umsonst passieren so viele Selbstmorde älterer Menschen bzw. Ehepaare, die nicht ins Heim wollen, sonst aber keine angemessene Hilfe finden.

Regeln für Kommentare: Bitte bleibt respektvoll - keine Diffamierungen oder persönliche Angriffe. Keine Video-Links. Manche Kommentare werden erst nach Prüfung freigegeben, was gelegentlich länger dauern kann.

Aktuelle Beiträge