Philosoph Michel Onfray: „Eine neue Art der Diktatur!“

8. Oktober 2023von 5,1 Minuten Lesezeit

Der französische Essayist und Philosoph Michel Onfray lieferte bereits 2019 in einem Buch als bekennender Atheist eine Diagnose der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung. Die westliche Welt, so ist er überzeugt, befindet sich auf dem Weg in eine neue totalitäre Gesellschaft.

In einem Interview mit Samuel Pruvot und Hugues Lefèvre am 16. 5. 2019 für „Famille Crétienne“, auszugsweise erschienen in „Vision 2000“ (Nr. 5/23), setzt sich Onfray über sein Buch „Théorie de la dictature“ (R. Laffont, 2019 – Deutsche Ausgabe: „Theorie der Diktatur“, Jungeuropa Verlag, Dresden 2021, ISBN 978-3-948145-08-8) auseinander und erläuterte seine Sichtweise. Zuvor hatte Michel Onfray u. a. mit dem Werk „Niedergang: Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur – von Jesus bis Bin Laden“ (Albrecht Knaus-Verlag 2018, jetzt Penguin) von sich reden gemacht. Darin erzählt er die 2000 Jahre alte Geschichte der jüdisch-christlichen Kultur und prophezeit ihren unaufhaltsamen Untergang. Onfray schildert ihren Aufstieg und ihre Blüte, die allmähliche Infragestellung des christlichen Weltbildes seit Renaissance und Aufklärung und schließlich den Verfall in unseren Tagen, der einhergehe mit Nihilismus und Fanatismus, wie wir sie in unseren Gesellschaften wiederholt erlebten.

Auf die Frage, warum er meint, das Frankreich von 2019 ähnle schon jetzt der Orwell’schen Gesellschaft, betont Onfray, es sei bereits der Zweifel daran schon ein Beweis dieser Tatsache. Man denke bei Diktaturen immer an braune und rote Faschismen – Hitler, Stalin, Mao, Pol-Pot…doch gäbe es sie ja seit der Römerzeit, wo man einem „Diktator“ (lat.: dem, der alles bestimmen darf!) sämtliche Macht übertrug, um ein bestimmtes Problem zu lösen – eine Vollmacht, die danach aber immer revidiert werden musste (…denken wir hier an das „Covid-Regime“, das offenbar auf Dauer ausgelegt ist). Über die Jahrhunderte und vor allem mit Personen wie Cromwell, Calvin oder Robespierre in Frankreich, kehrte die Diktatur immer wieder. Wir seien jedoch heute meist unfähig, solche Regime über die Zeiträume hinweg zu beurteilen (…eklatanter Bildungsmangel, auch diesen wünscht man zweckentsprechend wohl gerne zu perpetuieren).

In seinem Buch über Diktaturen, sagt Onfray, habe er das Schema einer neuen Diktatur entwickelt, basierend auf genauen Gedankengängen zu Orwells „1984“. Er habe dazu ihre Existenzformen in neuerer Zeit (man bedenke: 2019!) untersucht und erkannt: Diese Diktatur peilt ganz bestimmte Ziele an, nämlich: Freiheit zu zerstören, die Sprache verarmen zu lassen, die Wahrheit abzuschaffen, die Geschichte auszublenden, die Natur zu leugnen, Hass zu schüren und natürlich: totale Herrschaft anzustreben.

Auf die weitere Frage, wie das im Detail aussehe, lieferte Onfray eine großartige Aufzählung, was alles passieren muss, damit die genannten Ziele erreicht werden – aktuell quasi nun zum Abhaken, wie weit wir schon gekommen sind:

Um die Freiheit zu zerstören, muss man:

Fortgesetzte Überwachung sicherstellen, das Privatleben ruinieren und das Alleinsein (!) beseitigen (Menschen, die alleine sind, finden Zeit zum Nachdenken und Lesen), Freude an vorgeschriebenen Festtagen wecken, Einheitsmeinungen schaffen und „Gedankenkriminalität“ anprangern.

Um die Sprache zu verarmen, muss man:

Eine neue Sprache („Neusprech“) einführen, Doppeldeutigkeiten verwenden (die Menschen ständig verwirren), unliebsame Worte abschaffen, das gesprochene Wort forcieren und eine Einheitssprache für alle schaffen, vor allem literarische Klassiker aus dem Verkehr ziehen.

Um die Wahrheit abzuschaffen, muss man:

Eine Ideologie lehren, die Medien instrumentalisieren, Fake News verbreiten und eine eigene Realität erzeugen.

Um die Geschichte auszublenden, muss man:

Die Vergangenheit auslöschen und Geschichte neu schreiben, Erinnerungen erfinden, Bücher verbrennen (besorgt heute die Zensur von Amazon und der sozialen Medien, teilweise sogar schon der Büchereien), eine Flut neuer passender Literatur erzeugen.

Um die Natur zu leugnen, muss man:

Den Lebenstrieb zerstören, sexuelle Frustration verbreiten (plus genügend problemlos konsumierbare Pornografie anbieten), das Leben unter Gesundheitsdiktate stellen und es künstlich erzeugen.

Um Hass zu verbreiten, muss man:

Einen Feind schaffen, Kriege schüren (auch innerhalb der Familien!), kritisches Denken Psychiatrie-verdächtig machen, den Menschen per se abschaffen wollen.

Um schließlich die Herrschaft anzustreben, muss man:

Die Kinder prägen (so früh wie möglich), die Opposition in einem Land steuern (und überwachen), mit den Eliten herrschen („Teile und herrsche!“), alle durch den „Fortschritt“ versklaven und zugleich die Macht verschleiern.

(Somit: Ein kleines Handbuch zur Abschaffung jeglicher Freiheit und Lebenslust?)

Wer wolle also behaupten, so Onfray, dass wir nicht schon längst dort angekommen sind.

Es ist nochmals zu betonen: Das Interview fand Anfang 2019, vor dem „Coronaausbruch“ statt!

Onfray:

„Diese Diktatur greift den Leib nicht an, sie zermalmt die Seelen – was eine andere Art ist, auch den Leib zu zerstören, ihn aber am Leben zu lassen…“

Deutlicher hätte man den Seelenzustand, in dem sich so viele Menschen heute mit Panik, Ängsten und Stress befinden, wohl kaum vorhersagen können.

Zur Frage, ob die Gender-Theorie das Problem einer totalitären Gesellschaft sei, antwortete Onfray mehr als vielsagend:

„Sie ist das Produkt einer Gesellschaft, deren Ziel es ist, einen totalen Krieg gegen die Natur zu führen, um zu erreichen, dass alles, wirklich alles, zum Artefakt, zum Produkt, zum Gegenstand, zur Sache, zum Werkzeug, mit anderen Worten: zu einem Marktwert wird. Auf lange Sicht ist das die Perspektive eines umfassenden Kapitalismus, in dem alles machbar und daher käuflich und verkaufbar wird. Das bereitet auf den Transhumanismus vor, der die Endstation des Kapitalismus darstellt.“

Worüber sich nun jede und jeder ihre/seine eigenen Gedanken machen darf…

Hinweis: In Klammer gesetzte Bemerkungen stammen von mir.

Detail am Rande: Das Buch des Autors über Diktaturen ist so gut wie nicht mehr aufzufinden, auch nicht im deutschen Verlag. Ein Exemplar steht in der deutschen Nationalbibliothek, ein gebrauchtes bei Amazon ist „derzeit nicht verfügbar“…. Purer Zufall?


Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wieder. Rechte und inhaltliche Verantwortung liegen beim Autor.

© Dr. Gabriele Feyerer, Juristin, freie Autorin/Journalistin


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14 Kommentare

  1. Hasdrubal 9. Oktober 2023 at 9:23Antworten

    Die meisten totalitären Bemühungen gibt es aktuell im Westen um die CO2-Kabale, mit der buchstäblich Billionen kassiert werden sollen. Wenn man das berücksichtigt, bringt UncutNews heute einen Grund zum Feiern – den Artikel:

    „China kehrt dem Pariser Abkommen den Rücken zu: Klimabemühungen werden infrage gestellt.“

    Endlich sagt ein großes Land, der westliche Kaiser sei nackt… Aus dem Artikel:

    „… China hat wiederholt erklärt, dass es nicht beabsichtigt, dem westlichen Drang zu Netto-Null nachzugeben. … Die klaren Signale aus China sind eine gezielte Ohrfeige für Amerika und liefern eine Begründung für einen von Abgeordneten Chip Roy (R., Texas) gesponserten Gesetzentwurf, um Kerrys Klimaänderungsbüro im Außenministerium die Finanzierung zu entziehen. Der Gesetzentwurf wird von über zwei Dutzend anderen republikanischen Abgeordneten unterstützt. …“

    Wenn es sich noch in Westeuropa rumsprechen würde… Könnte TKP dazu beitragen?

    In einem der Postings beklagt jemand, im Alltag würde man 5-10 Tsd. Worte nutzen – was sollte ich bitte mit einer Million anfangen? Gut möglich, dass ich aber was dazugetan habe – etwa in TE-Kommentaren (und woanders) das ausgedachte Wort „Klimaindustrie“ verwendet, bis es hin und wieder auch TE-Autoren genutzt haben. Andere Schöpfung, die sich noch nicht durchgesetzt hat – „Failed Zivilisation“ analog zum „Failed State“ für die gefallene höchst korrupte westliche Zivilisation.

  2. brigbrei 8. Oktober 2023 at 17:31Antworten

    Dorn 8. Oktober 2023 at 10:00
    „Die Sprache ist bereits verarmt“

    Überflute das Land mit permanenter Migration, wie es seit 2015 geschieht, dann verarmt die Sprache ohnehin (was ja längst passiert).
    Und: Sie wird -politisch gewünscht und gefördert- sukzessive abgeschafft und zeitgleich die nationale Kultur und Geschichte, mit der sich beispielsweise unsere deutsche Heimat mit ihrer immerhin tausendjährigen Geschichte seit Otto I. identifiziert.
    Das Ziel ist, die Menschen zu entwurzeln, sie ihrer Heimat zu berauben, nationale Staaten (da dies als nazistisch gilt) aufzulösen, sie durch einen melting pot à la USA zu ersetzen – das ist dem Philosophen Onfray 2019 in Verbindung mit der „neuen Art der Diktatur“ aber noch nicht in den Sinn gekommen…

    • rudi&maria fluegl 8. Oktober 2023 at 18:59Antworten

      Toll!
      Vor ein paar hundert Jahren wurden die „germanischen“ Dialekte schon vereinheitlicht um besser Handel treiben zu können.
      Ein Schwabe hätte einen erschossen wäre behauptet worden er hätte etwas mit einem Preußen gemein.
      400 000 deutsche Ausdrücke gegen 1 Million tschechische zum Beispiel spricht ja nicht wirklich für reich und Deutsch.
      Der deutsche Arm um nicht zu schreiben Blinddarm sowie die Schweizer sind zumindest an Dialekten reicher. Österreich ist wenigstens hier nicht Österarm. Gebrauchen tun wir aber im Schnitt ev. 5000 Wörter, verstehen 10 000.
      Wünschen tun sich ‚Kriegstreiber und Resourcenvernichter so einiges!
      Ob das Ergebnis so gewünscht wurde, wie von ihnen und einigen mehr heraufbeschworen wird, frage ich die aus anderen Gründen nicht!
      Für deren Absetzung müssen wir die „heilige Nation“ der schon immer jeweils besten Menschen aller Zeiten nicht auch noch missbrauchen.
      Im Melting Pot Schweiz habe ich mich des öfteren schon wohl gefühlt.
      Etwas anstrebenswertes haben die jedenfalls mit deren breiter aufgestellten Demokratie, die ja so mancher Nationalist, sich für seine angerosteten Ketten mit Befestigung an den vielfältigen heimatlichen Ösen, wünscht!

  3. rudi&maria fluegl 8. Oktober 2023 at 15:48Antworten

    Es ist überfällig die Geschichte von unten, auch schon beim werden zu betrachten.
    Wen kümmert, beeindruckt wirklich noch was nackte Kaiser zu gebieren trachten, ohne dass es ihm vor Grausen schüttelt?
    Im Endeffekt bleibt wirklich über, wer hat nicht mitgemacht oder hat die Kurve gerade noch, wenn auch mit Hilfe von Mitmenschen, gekriegt.
    Neben allen Irrsinn und den unabsehbaren Risiken! Wann wurde je so klar, dass wirklich die falschen noch dazu in kleiner Zahl über viele, mit der Chance auf Verständnis und tiefgreifender Aufklärung der sie umgebenden Umstände, glauben bestimmen zu können, zu müssen?

  4. Matias 8. Oktober 2023 at 12:29Antworten

    Naja… aus meiner Sicht eine etwas halbgare Rezension. Und nur weil es nicht über Amazon verfügbar ist, gleich zu fragen, ob dies purer Zufall sei? Soll das eine rhetorische Frage über Zensur sein?

    Die Buchverfügbarkeit hängt auch von der Auflagenhöhe ab. Und wer ist der Jungeuropa Verlag?

    Ich fand da eine Amazon Rezension weitaus aufschlussreicher:
    „Das alles ist wahr und äußerst besorgniserregend, aber wurde in anderen Werken von anderen Autoren bereits besser, genauer, klarer und ohne die ständige, teilweise nervige Anlehnung an den großen Orwell herausgearbeitet. Daher halte ich die „Theorie der Diktatur“ für ein nur zweitrangiges Werk, in dem Onfray aufwärmt, was andere schon vorher erarbeiteten. Ich kann daher, auch wenn ich mit dem Inhalt des Werkes großteils übereinstimme, nur drei Sterne vergeben.

    „Das Gute ist der Feind des Besseren“ – und ich empfehle daher das Bessere, nämlich Roland Baader „Totgedacht: warum Intellektuelle unsere Welt zerstören“, Douglas Murray „Wahnsinn der Massen“, Michael Esders „Sprachregime“ und alle Werke des Geistesgiganten Rolf Peter Sieferle, insbesondere „Das Migrationsproblem“, „Krieg und Zivilisation“, „Finis Germania“ und vor allem das Jahrhundertwerk „Epochenwechsel“. Gegen Sieferle wirkt Onfray wie der Schüler vor dem Meister.“

    • Gabriele 8. Oktober 2023 at 13:58Antworten

      Ja, es sollte eine rhetorische Frage über Zensur sein. Der Jungeuropa Verlag existiert nicht mehr – jetzt bei Piper, das merke ich doch an. Und wer mit Amazon Erfahrung hat weiß, dass die ihrerseits genau wissen, was sie verkaufen oder plötzlich nicht (mehr) verkaufen und warum. Sie unterschätzen das gewaltig.

    • Gabriele 8. Oktober 2023 at 20:00Antworten

      Es ist keine „Rezension“, sondern die inhaltliche Wiedergabe eines Interviews, das der Autor selbst über sein Buch führte. Ist das eigentlich so schwer zu verstehen?

    • Mai 9. Oktober 2023 at 23:08Antworten

      Die von Matias angeführten Autoren Roland Baader, Douglas Murray, Michael Esders und Rolf Peter Sieferle kenne ich zwar (noch) nicht. Insoweit danke ich für diese Hinweise. Jedoch hat Sheldon Wolin, neben Hannah Arendt wohl einer der bedeutendsten Politiktheoretiker der vergangenen Jahrzehnte, in seinem Alterswerk 2008 den „umgekehrten Totalitarismus“ anführt. „Renate M.“ hat ihn schon zu dem Beitrag https://tkp.at/2023/10/06/der-neue-totalitarismus-freundlich-sanft-und-hochgefaehrlich/ am 6. Oktober 2023 at 12:10 Uhr angeführt.
      Denn das erinnert sehr an das hier Vorgestellte. Nach Wolin unterscheidet sich dieser umgekehrte Totalitarismus von den bekannten totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen darin, dass – anders als im „klassischen“ Totalitarismus (Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus) das Institutionengefüge scheinbar intakt bleibt. Alle bekennen sich zu Rechtsstaat und Demokratie, niemand stellt „die Verfassung“ infrage. Wahlen finden statt, die Medien scheinen frei, die Rechtsprechung scheint unabhängig. Aber diese Institutionen und Verfahren sind ausgehöhlt, substantiell verändert – nur Fassaden bleiben stehen. Demokratie oder vielmehr das, was davon jemals realisiert wurde, ist „inkorporiert“, also eingegliedert, eingebettet, gerahmt.
      In solch umgekehrtem Totalitarismus, der in den USA, aber auch in anderen „fortgeschrittenen“ Staaten deutlich Gestalt angenommen hat, verändert sich das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft: Staat und Konzerne, Macht und Profit verschmelzen auf neuartige Weise (z.B. „PPP“). Anders als im „klassischen Totalitarismus“ ist die Wirtschaft die dominante Kraft.
      Wenn sich Konzern- und Staatsmacht (korporativ) vereinigen oder im Sinne des aus dem italienischen stammenden Faschismus „bündeln“ (von fascio „Bund“ oder „fasces“ „Rutenbündel“), führt dies keineswegs zu einer Systemverschlankung. Es wird umfassender als je zuvor und gleichzeitig losgelöst von demokratischen Ideen ausgestattet mit der Fähigkeit, „die Demokratie zu verwalten“ bzw. sie in eine den Herrschenden genehme Richtung zu lenken.
      Im Unterschied zu den „klassischen“ Totalitarismen, die sich ihres totalitären Charakters rühmten, wird mit dem umgekehrten Totalitarismus dessen eigentliche Identität verschleiert, getarnt und strikt vermieden, diese Bezeichnung auszusprechen. Vielmehr wird sein Wesen negiert. Mit dem umgekehrten Totalitarismus wird kein unmittelbar erkennbarer Bruch mit der Vergangenheit, mit der Tradition vollzogen; vielmehr sich auf sie berufen, in eine vermeintliche Kontinuität gestellt und der Eindruck erweckt, alles sei in bester Ordnung.
      Während im Inneren Staat und Konzerne eine neue Einheit bilden, sind es im internationalen Maßstab die militärische Macht und auf Globalisierung ausgerichtete Unternehmen.
      Diese wirtschaftlich-militärische Macht orientiert sich an einem globalen Standard und nicht etwa an Verfassungen oder an einem demokratischen Rechtsstaat. Die Supermacht ist nicht dem Wohlergehen der Bürger verpflichtet, bindet diese nicht in politische Prozesse ein. Sie agiert losgelöst von politischen Vorgaben im überkommenen Sinn. Zwischen dem Ideal der demokratischen Selbstverwaltung und dem Anspruch der Supermacht auf globale Hegemonie liegen Welten.
      Wolin formuliert zugespitzt: „Die Bedingung für den Aufstieg der Supermacht ist die Schwächung oder Irrelevanz von Demokratie und Verfassungsmäßigkeit – außer als Mystifikationen, die es der Supermacht gestatten, eine Traditionslinie vorzutäuschen, die ihr Legitimität verleiht.“
      Dabei werden Bürger schon seit Jahrzehnten, so Wolin, auf die Rolle von Wählern reduziert. Nur zu Zeiten von Wahlen führt er scheinbar eine Art von politischem Leben. Ansonsten ist seine politische Existenz auf eine „Schattenstaatsbürgerschaft virtueller Partizipation“ reduziert bzw. beschränkt. „Statt an der Macht teilzuhaben, wird der virtuelle Bürger dazu aufgefordert, ‚Meinungen‘ zu haben: messbare Antworten auf Fragen, die darauf ausgelegt sind, diese Antworten zu erwirken.“
      Dem neuen System, schreibt Wolin, sei es nicht darum zu tun, die Bürger zu überzeugen, sondern sie entweder zu neutralisieren oder aufzuwiegeln. Aktive Unterdrückung ist nicht erforderlich; die Wählerschaft ist derart gespalten – und zwar entlang ideologischer Linien, nicht entlang von Klassenkonflikten –, dass sich kein starker Mehrheitswille formieren kann. „Die Nazis nannten dies Gleichschaltung. Wir könnten es ‚Lenkung‘ nennen, um seinen Platz in einer offenen Gesellschaft anzuzeigen.“
      Gegen Ende seines 93 Jahre währenden Lebens hat Wolin im November 2014 in einem dreistündigen Interview

      mit Chris Hedges eine Mahnung ausgesprochen. Eine Mahnung, die als sein Vermächtnis aufgefasst werden kann: Sollte der umgekehrte Totalitarismus irgendwann an Grenzen stoßen, sollte die Bevölkerung ungehalten, widerspenstig und ungehorsam werden, sollte die Systemfrage auf die Tagesordnung kommen, dann werden die Masken der sog. Eliten fallen. Sie werden in ihrem Abwehrkampf zu genau jenen Mitteln greifen, die aus dem klassischen Totalitarismus bekannt sind: Gewalt und Repression. Die Aggressivität, die das Außenverhalten des Staates schon seit langem kennzeichnet, wird sich nach Innen kehren. Der umgekehrte Totalitarismus würde sich zurückverwandeln in einen „klassischen“ Totalitarismus. Es wäre dies ein weiterer Paradigmenwechsel – und vermutlich ein unumkehrbarer.

      Sheldon S. Wolin: Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld. Aus dem Englischen von Julien Karim Akerma. Frankfurt am Main: Westend Verlag 2022, 462 Seiten, 36 Euro

  5. suedtiroler 8. Oktober 2023 at 11:38Antworten

    schade dass das Buch nicht mehr verfügbar ist. gibt es eventuell irgendwo als „Kopie“?

    • Gabriele 8. Oktober 2023 at 14:22Antworten

      Man kann nur in Antiquariaten nachschauen oder bei großen Büchereien anfragen, ob sie es besitzen oder es zentral besorgen könnten.

      • Bibliothekskundiger 8. Oktober 2023 at 18:20

        Das Buch ist laut dem Karlsruher Virtuellen Katalog (https://www.bibliothek.kit.edu/) zumindest in einigen Universitätsbibliotheken und Spezialbibliotheken vorhanden. Die DNB hat für gewöhnlich von jedem Buch nur ein Exemplar an ihren beiden Standorten. Sofern Neuauflagen erscheinen, erhält die DNB über das Pflichtexemplarrecht für jeden Standort ein Buch vom Verlag, sofern der Verlag seinen Sitz in Deutschland hat.

      • Leser 10. November 2023 at 13:46

        In dem Zusammenhang ist vielleicht auch interessant, wie in Bayern und Berlin-Brandenburg das Thema politisch missliebige Literatur diskutiert wird.

        Siehe dazu den TOP 11.12 aus dem Protokoll der 21. Sitzung der AG Sacherschließung (BVB/KOBV) am 12.07.2023.
        https://www.bib-bvb.de/documents/11158/10801146/AGSE_Protokoll_der_21-Sitzung_12072023.pdf/41a08a7c-80fd-d29c-c4a6-c600630e97de

    • Jan 8. Oktober 2023 at 15:10Antworten

      Die Überwindung des Menschen und des Menschlichen („Transhumanismus“) ist keineswegs ein Endzustand des Kapitalismus, dessen Herrschaftsform der demokratische Liberalismus ist. Nein, das ist das Ziel einer anderen Entität. Noch dazu als globale Diktatur am Ende der Zeit. Es handelt sich um Religion.

  6. Dorn 8. Oktober 2023 at 10:00Antworten

    Die Sprache ist bereits verarmt und Einseitig geworden. Und die Wahrheit wurde seit der Pandemie Stück für Stück abgeschafft. Der Rest folgt im Hintergrund.

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