Städtejubiläen – Ein Grund zum Feiern?

21. Juni 2025von 4,4 Minuten Lesezeit

Mit der sommerlichen Festsaison werden jetzt auch wieder runde Stadt- und Dorfjubiläen groß begangen. Aber was wird da eigentlich als Gründung gefeiert? Sind Städte und Dörfer hierzulande wirklich meist nur zwischen 600 und 1000 Jahre alt? Wie sicher sind solche Datierungen überhaupt?

In der öffentlichen Wahrnehmung bleibt meist im Dunkel, worauf sich die oft recht alkohollastigen Jubelereignisse beziehen. Um den tatsächlichen Beginn einer Ansiedlung geht es jedenfalls fast nie. Das „Gründungs“-Dokument besagt nicht mehr, als dass der Ort einen ersten schriftlichen Niederschlag fand. Mit anderen Worten: die Ersterwähnung einer Besiedlung, die vorher bereits bestand. Ob die Stadt oder das Dorf schon früher eine Spur in der Zeit hinterließen, bleibt im Dunkeln. Niemand weiß, was an Zeugnissen über frühere Vorgänge verschwand oder vernichtet wurde.

Und dann ist da noch die Frage der Datierung. Im genannten Zeitraum war die A.D.-Zeitrechnung noch nicht etabliert. Die heutige christliche Zeitschiene musste erst aus Regierungszeiten von Herrschern rekonstruiert werden. Verlässlich ist das Geschriebene ohnehin nicht; denn es waren durchweg kirchliche Schreiber, die die Dokumente verfertigten. Sie dienten vorrangig den Interessen ihres Ordens. So mancher Eigentumsübergang war erfunden oder rückdatiert. Die katholische Kirche schwang sich zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert durch fingierte Schenkungsurkunden Adeliger zum größten Grundbesitzer in Europa auf. Dokumente schufen immer wieder Fakten, die die Wirklichkeit nicht hergab.

Wer will ernsthaft glauben, dass unsere Heimat vor mehr als 950 Jahren ein „leeres“ Land mit einigen wenigen Einzelhöfen gewesen wäre? Tatsächlich war Mitteleuropa seit Jahrtausenden besiedelt und die Handelsaktivitäten mit anderen Regionen lassen auf Städte und Dörfer wie im Mittelmeerraum schließen. Vor der Eroberung durch skandinavische Ritter im Verbund mit katholischen Orden handelte es sich um eigenständige Gemeinschaften, die vielerorts als umwallte Keltenstädte nachgewiesen sind. (Mehr zu dieser Besitzergreifung in: Reuther G, Reuther R: Die Eroberung der Alten und Neuen Welt. Mythen und Fakten. Engelsdorfer Verlag 2024)

Die Bischöfe der ostsächsischen Bistümer schrieben um das Jahr 1100 an die weltlichen Herrscher im Westen: „Die Heiden sind zwar verdorben und schlecht, aber ihr Land ist erstaunlich reich: dort fließen Milch und Honig. (…) Deswegen Sachsen, Franken, Lothringer, Flamen, ihr berühmten Weltbezwinger, auf! Hier könnt Ihr Euer Seelenheil erwerben und, wenn es Euch gefällt, noch das beste Siedelland dazu.“ Nur mit schon länger bestehenden arbeitsteiligen Gemeinschaften sind die Großbauten des Spätmittelalters denkbar. Romanische Hallen und Basiliken oder gotische Kathedralen und die Höhenburgen des neuen Adels hätte man vor einem Jahrtausend nicht einfach aus dem Stand so bauen können.

Wenn diese Zeiten vor den Jubiläumsdaten unterschlagen werden, hat dies einen tieferen Sinn. Kirche und weltliche Herrscher haben kein Interesse daran, dass es eine Geschichte vor ihrer Machtergreifung ab dem 11. Jahrhundert gibt. Ein kollektives Bewusstsein für andere gesellschaftliche Verhältnisse vor der feudalen Knechtschaft soll ausgelöscht werden und auch nicht wieder auftauchen. Die damalige Eroberung soll als der Anbeginn einer Zivilisation erscheinen. Ein freieres und sehr wahrscheinlich besseres Leben darf es nie gegeben haben.

Die älteste Erwähnung einer Ansiedlung ist daher alles andere als ein Grund zum Feiern. Handelt es sich doch meist um die erstmalige Übereignung oder Leihgabe einer vormals freien Ansiedlung mit Mann und Maus. Selbst wenn darin noch das eine oder andere Recht bescheinigt wird, ist dies keine Errungenschaft. Einer freien Stadt konnte und musste niemand etwas zugestehen. Was als „Privilegien“ eingeräumt wurde, sind lediglich die Rechte, die man den Bewohnern nicht weggenommen hat. Die offizielle Ersterwähnung kann als Eintritt einer Bevölkerung in die Unmündigkeit mit Abgabenpflicht und Verlust der Eigenständigkeit gelten.

Dies wird von den jeweiligen Stadtoberen gerne verdrängt. Selbst den meisten Historikern ist die Demütigung der betroffenen Bewohner mit den Ersterwähnungen fremd. Kaum jemand wundert sich, dass die Mehrzahl der Städte in einem engen Zeitraum zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert entstanden wären. Die Schenkungs- und Übereignungsurkunden täuschen einen Gründungsboom und damit eine wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung vor, die es gar nicht gegeben haben kann. Im Gegenteil, durch die neuen Abgaben, Entrechtungen und Enteignungen muss die Wirtschaftstätigkeit erst einmal stark eingebremst worden sein.

Nur die damaligen skandinavischen Eroberer, die sich zum neuen Adel erhoben, und die im Verbund mit ihnen agierenden Mönchsorden können bis heute ein Interesse haben, eine Stunde Null mit ihrer Machtausübung vorzugaukeln. Für die alteingesessenen Bewohner Europas war es der Eintritt in eine Totalkontrolle, wie sie sich heute wieder um uns aufbaut. Alles andere als ein Grund zum Feiern.

Hubert F, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wider. Rechte und inhaltliche Verantwortung liegen beim Autor.

Dr. med. Gerd Reuther ist Radiologe, Medizinaufklärer und Medizinhistoriker. Er hat 9 Bücher veröffentlicht, zuletzt mit „Tatort Vergangenheit“ eine Geschichtsaufarbeitung gegen den Strich gebürstet. Dr. phil. Renate Reuther ist Historikerin.


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2 Kommentare

  1. local.man 22. Juni 2025 um 7:31 Uhr - Antworten

    Danke, ein guter Artikel der mir einen neuen Denkanstoß gegeben hat, für etwas über das man gar nicht so nachdenkt.
    Und ja, selbstverständlich wird es hier schon Dörfer und Städte gegeben haben, vor irgendwelchen Eintragungen.
    Hier in meiner Stadt wurde dieses Jahr die 800 Jahrfeier begangen. Teile der Burgmauern existieren noch hier und da.
    Auch halte ich alle diese mittelalterlichen Filme die uns gezeigt werden, für eine Falschdarstellung. Im Grunde fragt man sich, wie diese Leute da überlebt haben, so dermaßen schlecht und hart wie es ihnen gegangen sein muss, schmutzig, kalt und im Dreck hausend und ständig vor dem Tode durch Wind, Wetter und Kampf, dabei maximal schwer schuftend und immer irgendwie im Elend. Glück kannten die wohl gar nicht scheinbar.

    Dabei vermute ich eher den Trick, uns weismachen zu wollen, wie toll und frei unsere Leben heute sind, dabei sind wir viel mehr ausgeplündert und schufften viel mehr als die Menschen damals in ihrer Tätigkeit, was nicht mal als Arbeit galt, weil das erst eine Neuzeiterfindung ist. Bzw. Gab es schon Arbeit, aber die war nur für die Sklaven da.
    Das Thema ist ebenfalls tiefgründiger als man meint.

  2. Fritz Madersbacher 21. Juni 2025 um 13:46 Uhr - Antworten

    Viele (alle) Stadtsiedlungen waren da, bevor sie zur Stadt „erhoben“ wurden, was mit dem Bau einer Stadtmauer verbunden war und durch irgendein (landes-)fürstliches Dekret erfolgte. Große Städte strebten die „Reichsunmittelbarkeit“, die direkte Unterstellung dem Kaiser an, um gegenüber den adeligen Herren des Landes, in dem sie lagen, selbständiger zu werden. Der Kapitalismus entstand in den Städten. Handwerk, Manufakturen, Handel und Geldhandel waren dort konzentriert, was die Selbständigkeit der Stadtbürger und ihr Selbstbewußtsein gegenüber den feudalen Landesherrn beförderte. Besonders deutlich wurde das in der Reformationszeit (die nicht umsonst so heißt), als die neuen Lehren und Glaubensauslegungen in den Städten entstanden und besonders großen Anklang fanden. Das Alles erfolgte in so vielfältigen Erscheinungsformen, kriegerisch wie friedlich, dass sich diese Entwicklung kaum über einen Kamm scheren läßt. Aber gerade das könnte zum aktiven Handeln animieren, weg vom passiven Ertragen, im Bewußtsein, dass eben nicht Alles immer schon so gewesen ist und deswegen auch nicht immer so sein wird …

Regeln für Kommentare: Bitte bleibt respektvoll - keine Diffamierungen oder persönliche Angriffe. Keine Video-Links. Manche Kommentare werden erst nach Prüfung freigegeben, was gelegentlich länger dauern kann.

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