Ex-Frankreich-Premier: „Westen isolierter als Russland“

11. März 2024von 6,1 Minuten Lesezeit

Politiker der alten Generation zeigen der EU auf, wie die politische Klasse verfallen ist. Der ehemalige Premierminister unter Jacques Chirac rechnete mit der dilettantisch-gefährlichen Nato-Politik ab.

Dominique de Villepin war einer der wichtigsten politischen Vertrauten von Jacques Chirac. Jahrelang war er Generalsekretär im französischen Präsidialamts, später war er Außenminister, Innenminister und 2005 von Chirac zum Premierminister ernannt. Schon in seiner Zeit als Außenminister hatte er weltweite öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, weil er sich gegen die US/NATO-Invasion des Iraks ausgesprochen hatte. Nun sprach er im französischen TV in eindrucksvoller Klarheit über den Ukraine-Konflikt.

Fünf Risiken

Auslöser für seinen Auftritt war Macrons Sager von der „Entsendung von Bodentruppen“, die eine große Debatte entfacht hat und die EU deutlich positioniert. Polen und das Baltikum (und Tschechien) wollen Soldaten entsenden, sagen auch offen – wie der Polnische Außenminister – dass sich ohnehin bereits Nato-Truppen in der Ukraine befinden, Deutschland und Frankreich bremsen.

Aber man lese die Intervention von Dominique de Villepin. Der Journalist Thomas Fazi sagte dazu: „Diese Politiker der alten Schule reden zu hören, ist eine schmerzhafte Erinnerung daran, wie degradiert die westliche politische Klasse geworden ist.“

Hier die ausführlichen Worte von de Villepin:

Damit diese Debatte [über die Entsendung von Bodentruppen] sinnvoll ist, hätten wir zunächst fünf Fragen beantworten müssen. Fünf Risiken, die mit dieser Eskalation verbunden sind, mit diesem Schritt, den wir gehen würden, wenn wir Bodentruppen, Kampfflugzeuge schicken würden. Fünf Risiken.

Das erste Risiko ist die Ausweitung des Konflikts. Wenn wir Bodentruppen entsenden, wissen wir dann, ob auf der russischen Seite andere, auf der anderen Seite, Bodentruppen entsenden werden? Werden wir es mit afrikanischen Kämpfern zu tun haben, werden wir es mit asiatischen Kämpfern zu tun haben, werden wir es mit Kämpfern aus dem Nahen Osten, aus dem gesamten globalen Süden zu tun haben, die es auch mit dem Westen aufnehmen wollen? Erstes Risiko.

Wenn der Westen, die Europäer, die Franzosen ,Truppen dorthin schickt, glauben Sie nicht, dass das Solidarität auf der russischen Seite auslösen wird? Ich denke, diese Frage müssen wir uns noch stellen. Auf jeden Fall hat unsere Diplomatie nicht das getan, was sie hätte tun müssen, um Russland zu isolieren. Wenn Russland isoliert wäre, wüssten wir das… Im Übrigen glaube ich, dass wir leider mehr isoliert sind als Russland.

Zweite große Frage: neue Front. Das Risiko einer neuen Front. Ich habe gewarnt, ich gehörte zu den wenigen Stimmen, die sagten: „Seid vorsichtig, die Ukraine ist eine gefährliche Situation, aber was passiert, wenn sich eine neue Front auftut?“. Die Front in Gaza und im Nahen Osten ist eröffnet. Aber es gibt andere Fronten, die sich öffnen können: in Korea, in Afrika… Werden wir also auf allen fünf Kontinenten einen solchen Krieg führen? Diese Realität muss berücksichtigt werden: Die Welt ist nicht auf das Drama und die Tragödie der Ukraine beschränkt. Es zeigt sich, dass Amerika eine Weltmacht ist und dass auch wir den Anspruch erheben, eine Weltmacht zu sein, so dass uns die große Balance und die Ordnung der Welt am Herzen liegen, und leider berücksichtigt unsere Diplomatie nicht ausreichend die Unruhen, die die Kongolesen, die Sudanesen usw. betreffen.

Das dritte wichtige Risiko ist das terroristische Risiko. Ich denke nicht an den Terrorismus, der von unseren Gegnern in der Ukraine ausgeht, ich denke an den opportunistischen Terrorismus. Wenn es Situationen dieser Art von Unordnung gibt, schlägt der Terrorismus zu. Und ich erinnere Sie daran, dass wir hier in Frankreich kein Jahr des Krieges, sondern ein Jahr der Feierlichkeiten geplant haben. In einigen Monaten werden wir den 80. Jahrestag der Landung der Alliierten am D-Day begehen, und Delegationen aus der ganzen Welt werden kommen. Wir werden mehrere Monate damit verbringen, die Olympischen Spiele zu feiern. Wenn wir mobilisieren müssen, dann lassen Sie uns mobilisieren, aber vielleicht hätte man etwas mehr tun sollen: Ich sehe keine Kriegswirtschaft, keine Vorbereitung in Bezug auf Zivilschutz und hybride Kriegsführung, ich sehe nichts… Man zieht nicht einfach die Idee, in der Ukraine in den Krieg zu ziehen, aus dem Hut, ohne sich ein wenig vorbereitet zu haben…

Viertes Risiko: Wir stehen am Vorabend einer amerikanischen Wahl, die die neue Weltordnung bestimmen wird. Es ist eine sichere Wette, dass wir auf eine neue Ära des Isolationismus und Protektionismus zusteuern, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Wir erleben eine Spaltung dieser neuen Weltordnung zwischen Trump und einem China, das gerade die Wiedervereinigung seines Parlaments gefeiert hat und sich mehr denn je auf seine Sicherheit konzentriert und in sich gekehrt ist. Dies ist ein allgemeiner globaler Kontext, der berücksichtigt werden muss.

Und dann gibt es noch ein letztes Element, das vielleicht eines der wichtigsten ist, nämlich das nukleare Risiko. Ich kenne die guten Experten, die großen Experten, die sich zu diesem Thema äußern, und ich habe großen Respekt vor ihnen. Aber die Entsendung von Bodentruppen, von Kampfflugzeugen, bringt uns in Bezug auf die Abschreckung in eine Situation, die wir noch nie erlebt haben. Vierzig Jahre Kalter Krieg: die Streitkräfte des Warschauer Paktes und die NATO-Streitkräfte sind nie aufeinandergetroffen. Und das ist kein Zufall: Es liegt an einer Realität, die mit der Grammatik der Kernenergie zu tun hat.

Die Regel der Abschreckung beruht auf dem Prinzip der gegenseitigen gesicherten Zerstörung. Das heißt, wenn einer die Bombe einsetzt und der andere antwortet, sind wir alle tot. […] Ich denke, die nukleare Grammatik bedeutet, dass das Risiko von NATO-Bodentruppen in der Ukraine heute ein Risiko darstellt und dass dieses Risiko für verantwortungsbewusste Mächte inakzeptabel ist. Ich reise genug in der Welt herum, um seit 15 Jahren etwas beobachten zu können: Der Einsatz von Atomwaffen basiert auf politischen Kulturen, gesellschaftlichen Kulturen und Zivilisationen. Die Welt verändert sich, und was vor 10 oder 15 Jahren noch undenkbar schien, sieht heute anders aus: Die Rhetorik des Feindes, der Hass auf den anderen, hat sich so weit entwickelt, dass wir in einer internationalen Gemeinschaft leben, die vielleicht mit dem anderen abrechnen will. […] Heute, und dabei denke ich nicht nur an die Russen, dürfen wir die Verbreitung von Atomwaffen in Ländern wie Pakistan und vielen anderen nicht vergessen, die heute über Atomwaffen verfügen.

Und hier ist das Prinzip der Verantwortung wesentlich, und es gibt eine Regel, die aus all dem gezogen werden muss: Die Logik der Gewalt führt, wenn sie nicht kontrolliert wird, zu einer Eskalation, die tödlich sein kann. Das ist es, was die Situation in der Ukraine zu einer echten Gefahr macht, und das ist es auch, was – denn dieses Prinzip der Logik der unkontrollierten Gewalt würde ich gerne auf die Situation in Gaza anwenden – was die israelische Politik, die heute in Gaza angewendet wird, zu einer echten Gefahr macht. Denn es gibt keine Kontrolle über die Anwendung von Gewalt. Und wenn man sich […] ansieht, sind alle Fronten miteinander verbunden, alle Krisen sind miteinander verbunden.

Bild „All flags at NATO HQ lowered in solidarity with France“ by NATO is licensed under CC BY-NC-ND 2.0.

Unsere Arbeit ist spendenfinanziert – wir bitten um Unterstützung.

Folge uns auf Telegram und GETTR


Macron setzt WEF-Schüler als Premierminister ein

Klimapolitik: Macron-Regime verbietet Vermietung von Wohnungen

8 Kommentare

  1. Berggoaß 12. März 2024 at 8:23Antworten

    Leider haben kriegslüsterne Damen wie vdL, Baerbock, S.-Z. … das Wort.

    Diese vdL, …es wird zwar ein für Unternehmer strenges Lieferkettengesetz beschlossen, selbst will sie in Afrika auf Waffeneinkauf gehen. Ob sie da wohl auch das Lieferkettengesetz einhalten wird?

  2. therMOnukular 11. März 2024 at 20:58Antworten

    „Viertes Risiko: Wir stehen am Vorabend einer amerikanischen Wahl, die die neue Weltordnung bestimmen wird.“

    Das halte ich für absurd. BRICS wird die neue Weltordnung formen, also die Welt bzw der größte Teil davon gemeinsam. Die Zeiten, in denen eine Nation die „Ordnung“ der Welt eigenmächtig für sich nutzen konnte, sind bald vorbei. Die Veränderungen werden sogar jetzt schon sichtbar. Alleine das Faktum, dass die „Sanktionen“ uns selbst mehr schaden als Russland, bestätigt unwiderlegbar die Tatsache, dass wir als Westen natürlich längst isolierter sind als Russland. Längst kommt zu uns zurück, was wir aussenden.

    Man braucht sich nur die jüngste State of the Union-Rede Biden’s ansehen. „The economy is doing great“ usw….als hieße er Erich H. Gleichzeitig hat er dem Volk nur Abtreibung, Zensuhr und mehr Krieg „angeboten“…….. Der ganze Westen liefert ein desaströses Bild!

  3. Jurgen 11. März 2024 at 19:28Antworten

    Warum sind eigentlich die Franzosen so kriegsgeil? Die Zeiten Napoleons sind doch längst vorbei – der ist fulminant gescheitert und hat viel Geld und Menschen vernichtet – und der französische Schneid ging im 2.Wk verloren, heute lehnen sie sich wegen der Atombombe zurück… oder?

    • I.B. 12. März 2024 at 18:29Antworten

      Mit jedem Abspielen der blutrünstigen Nationalhymne (im Friedensprojekt EU) wird den Franzosen Kriegsgeilheit eingetrichtert.
      „Auf, auf Kinder des Vaterlands!
      Der Tag des Ruhmes, der ist da….“

      Ja, der Tag des Ruhms, der wird heute offenbar auch den (toten) Helden der Ukraine vorgegaukelt.

      „Zu den Waffen, Bürger!
      Formt Eure Schlachtreihen,
      Marschieren wir, marschieren wir!
      Bis unreines Blut
      unserer Äcker Furchen tränkt!“

      Was will man mehr?

  4. suedtiroler 11. März 2024 at 13:42Antworten

    die westlichen Sanktionen gegen Russland funktionieren wunderbar!
    Russland verdient heute mehr mit anderen Ländern als mit der EU früher!
    nicht die EU hat Russland als Lieferanten ersetzt, sondern Russland hat die EU als Kunde ersetzt
    Gratulation!

  5. Daisy 11. März 2024 at 12:26Antworten

    Der „Westen“ ist sozusagen durchschaut…

    Rechnet man damit, dass Russland nie zum Äußersten gehen wird? Geht es nur um den Profit der Rüstungsindustrie? Will man analog dem Nahost-Konflikt einen ewigen Ukraine-Konflikt einrichten?

  6. Daisy 11. März 2024 at 12:15Antworten

    Der Papst wurde wider jede Vernunft gerüffelt von den ärgsten Kriegstreibern, ausgerechnet in D. Selbst die Rüstungslobbyistin Strack Zimmerman sieht sich neuerdings als Katholin (christlich wohl eher nicht, denn Jesus war ja bekanntlich der erste Kom.nist.. ;-) Die machen sich Sorgen um das Geschäft, würde ich sagen. Menschenleben zählen wohl nichts!

    Aber es hat keinen Sinn. Auch in in einem konventionellen Krieg gegen Russland kann der Westen nur verlieren. Sie haben alles an die Ukraine geliefert und sich selbst entwaffnet. Bodentruppen sind Menschopfer. Merkts euch, Menschen sind kein „Material“, keine Munition! Jetzt gibt es nur noch „Massenvernichtungswaffen“. Schiebt sie euch doch dorthin, wo die Sonne nie scheint! Zweite CD von „the genius of roger miller“..das Lachen ist meins.

    Was ist dieser Kiesewetter eigentlich? „Roderich Kiesewetter ist ein deutscher Politiker und Oberst a. D. der Bundeswehr und seit 2009 direkt gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages“.

    Buben träumen von Waffen. Männer wissen, was sie anrichten. Tipp: ich war mal in einem Schützenverein. Schießt auf Zielscheiben zur Ersatzbefriedigung. Wir hatten Waffen im Haus wie viele andere auch. Man hat uns Kindern eingebläut: „Richte den Lauf niemals auf Menschen! Auch wenn du denkst, dass sie nicht geladen ist! Niemals! Hörst du?“ Das sitzt tief.

    Leider findet die US Wahl erst im November statt.

    • Eispickel 11. März 2024 at 13:42Antworten

      Dass der Papst gerüffelt wurde, offenbart einmal mehr die Ignoranz und Inkompetenz der Kriegsbefürworter (denn die weiße Flagge ist historisch der erste Schritt zur Aufnahme von Verhandlungen).

      „Richte den Lauf niemals auf Menschen“ was Schauspieler Alec Baldwin leider nicht beherzigt und damit die Richtigkeit dieser Ansage belegt hatte.

      „Es liegt an einer Realität, die mit der Grammatik der Kernenergie zu tun hat.“ Wenn sich das nur alle hinter die Löffel schreiben würden (nachdem sie’s auch kapiert haben).

Regeln für Kommentare: Bitte bleibt respektvoll - keine Diffamierungen oder persönliche Angriffe. Keine Video-Links. Manche Kommentare werden erst nach Prüfung freigegeben, was gelegentlich länger dauern kann.

Aktuelle Beiträge