Public Health Experte Martin Sprenger im Interview: Corona schon seit Herbst 2019 in Europa

3. September 2020von 17,3 Minuten Lesezeit

Public Health, also öffentliche Gesundheit, ist die Disziplin der Medizin, die sich mit den ganzheitlichen Auswirkungen von Maßnahmen beschäftigt. Denn wie jeder sehen kann, wirkt sich das Coronavirus nicht nur direkt auf den Gesundheitszustand einzelner Menschen aus, sondern auch auf Wirtschaft, Sport, Kunst und Kultur. Und die nicht-pharmazeutischen Maßnahmen haben enorme Rückwirkungen auf die Gesundheit. Martin Sprenger ist einer der führenden Experten auf diesem Gebiet in Österreich.

Peter F. Mayer: Sie waren im Beraterstab des Gesundheitsministeriums. Sie sind ausgeschieden zu der Zeit als der Bundeskanzler trotz rückläufiger Infektionszahlen von „Hunderttausend Toten“ und „jeder wird einen kennen, der an Corona verstorben ist“ gesprochen hat. Warum sind Sie ausgestiegen?

Martin Sprenger: In so ein Gremium wird man sehr unkompliziert eingeladen. Bei der vierten Sitzung am 12. März bin ich dazu gekommen. Ich bin als Public Health Experte eingeladen worden mit der Aufgabe, dass ich auf vulnerable Gruppen schaue, das war der Wunsch des Gesundheitsministers. Ich musste weder etwas zu Geheimhaltung noch etwas zu Interessenkonflikten unterschreiben, ich bekam kein Salär, nicht einmal Spesen wurden ersetzt. Es war also eine ehrenamtliche Aufgabe.

Die ersten beiden Sitzungen, an denen ich teilgenommen habe, fanden noch Face-to-Face statt, danach gab es nur mehr Online Meetings. Dann kam diese Pressekonferenz und ZIB-Spezial des Bundeskanzlers am 30. März, wo eben von den Hunderttausend Toten und „jeder wird jemand kennen, der am Coronavirus gestorben ist“ die Rede war. Das war vollkommen unnötig, denn wir waren damals schon in einer guten Situation. Das hat mich so geärgert, dass ich meinen Abschiedsbrief geschrieben habe. Wirklich ausgetreten bin ich aber erst am 07. April.

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  • Hockertz, Prof. Dr. rer. nat. Stefan W. (Autor)

Mein Wissen habe ich nicht wirklich einbringen können, was bei Zoom Meetings mit 30 Leuten auch schwierig ist. Natürlich sollte man einen solchen Ausstieg auch immer selbstkritisch sehen. Es liegt ja auch an einem selber, wenn man seine Standpunkte nicht kommunizieren kann.

pfm: Was unterscheidet Sie als Public Health Experte von einem reinen Mediziner?

ms: Public Health hat einen Blick aufs große Ganze der Gesundheit, eher auf der Bevölkerungsebene als auf einer individuellen Ebene. Und da spielen die bestimmenden Faktoren für Gesundheit eine große Rolle. Also, nicht nur das Genom, sondern Lebens-, Wohn- oder Arbeitsverhältnisse. Zum Beispiel erhöht Arbeitslosigkeit das Erkrankungsrisiko und verdoppelt das Sterberisiko. Bildung ist ebenso eine ganz wichtige Größe für Gesundheit, oder soziale Verhältnisse, die sowohl positiv als auch negativ wirken können.

pfm: Welche Folgen hat Angst auf die Gesundheit? Schwächt sie das Immunsystem?

ms: Als Mediziner sage ich, dass Angst eine ganz wichtige Emotion ist. Sie warnt uns vor einer gefährlichen Situation und gibt uns vielleicht auch die Energie damit fertig zu werden. Aber bei andauernder Angst kommen wir in den sogenannten Distress, der ungesund ist. Wenn eine Bevölkerung dauernd in Angst gehalten wird, wie etwa bei einem Kriegszustand, so schadet das der Gesundheit. Übrigens schadet auch die Angst vor Delogierung oder Arbeitslosigkeit unserer Gesundheit. Meiner Meinung nach ist viel zu übertrieben mit der Angst gespielt worden, zum Teil ganz bewusst. Und das war nicht gut.

pfm: Die Angstproduktion schadet also eher, denn sie schwächt das Immunsystem, die einzige Instanz, die das Virus bekämpft. Auch die Impfung soll ja nur das Immunsystem über die Eigenheiten des Virus informieren.

ms: Ohne Immunsystem wären wir nicht lebensfähig. Es ist viel komplexer, als wir bis heute verstehen. So fangen wir zum Beispiel erst langsam zu verstehen an, wie unser Immunsystem mit unserem Mikrobiom interagiert. Im Umgang mit Infektionskrankheiten ist unser Immunsystem nicht nur extrem wichtig, sondern der entscheidende Faktor.

Was ich in der ganzen Diskussion vermisse ist die Anerkennung des Faktums, dass sich unser Organismus, das lebendige System Mensch, ständig mit seiner sozialen, physikalischen und biologischen Umwelt auseinandersetzen muss. Und diese besteht eben auch aus Bakterien und Viren. Unser Immunsystem braucht diese Auseinandersetzung. Wir kommen steril auf die Welt und werden besiedelt mit Bakterien und Viren. Diese frühe Auseinandersetzung ist essenziell für das Funktionieren des Immunsystems. Die Bedeutung unseres Immunsystems kommt mir in der aktuellen Debatte viel zu kurz. Da würde ich gerne öfter ImmunologInnen hören. Die hätten da sehr viel dazu zu sagen.

pfm: Kommen wir zum derzeitigen Thema Nummer 1, zumindest international wird Sinnhaftigkeit und Aussage des PCR Tests hinterfragt. Es werden derzeit immer mehr junge Menschen getestet, oft zufällig ausgewählt. Halten sie das für sinnvoll?

ms: Prinzipiell ist es gut, wenn man einen Test hat. Das Problem entsteht nur dann, wenn man übersieht, dass jeder Test Limitierungen hat. Es beginnt damit, dass man wissen muss, wie aussagekräftig ein Test ist. Es reicht nicht nur, dass ein Test Gesunde als gesund und Kranke als krank erkennen kann, sondern die Aussagekraft eines Tests hängt auch von der sogenannten Vortestwahrscheinlichkeit oder Prävalenz ab. Und damit wird es immer komplizierter.

Meine Hauptkritik ist, dass bisher positiv Getestete als Erkrankte bezeichnet wurden. Das ist vollkommen falsch, war immer falsch und wird immer falsch bleiben. Dann gab es die Diskussion über die falsch-negativen und die falsch-positiven. Aber es wurde überhaupt nicht diskutiert, wie gut der Test erkennt, ob jemand infektiös ist oder nicht. Da gäbe es schon Wege das festzustellen. Aber auch das wird vollkommen unkritisch übernommen. Man kann Wochen oder Monate PCR-positiv sein, ist aber schon lange nicht mehr infektiös.

Auch der Virologe Drosten rudert jetzt schon langsam in diese Richtung. Er ist ja auch ein Phänomen in sich selber. Ich habe fast alle seine Podcasts gehört und staune immer wieder, wie er sich dreht und wendet und 180 Grad andere Dinge sagt als noch vor Wochen oder Monaten. Jeder darf seine Meinung ändern, aber Drosten, der ja ein PCR-Test-Spezialist ist, wusste von Anfang an, dass mittels des PCR-Tests eben keine Infektiösität festgestellt werden kann. Und er hätte das klar und deutlich kommunizieren müssen, in seinen öffentlichen Stellungnahmen, aber auch gegenüber der Politik. Dass er das nicht getan hat, finde ich persönlich sehr fragwürdig und erklärungsbedürftig. Weil wissen tut er das seit Jänner oder Februar.

pfm: Was genau wusste er?

ms: Er weiß, dass der PCR-Test nur eine Viruskontamination feststellen kann. Das weiß er, er hat den Test mitentwickelt. Er weiß, dass ein PCR-Test auch wenn er eine hohe Spezifität aufweist, bei einer sehr geringen Prävalenz (sehr wenige Infizierte) falsch-positiv anzeigen kann. Aber noch entscheidender in einer Pandemie ist die Information, ob jemand infektiös ist oder nicht.

pfm: Was müsste man also statt des PCR-Tests anderes machen? Oder den PCR-Test anders handhaben?

ms: Der Goldstandard wäre die Virusisolation, also einen Nachweis des Virus selbst und nicht nur von Fragmenten davon. Es geht darum einen funktionstüchtigen Virus nachzuweisen, was man im Labor sehr wohl kann.

pfm: Was erwarten Sie für den Herbst? Es beginnen wieder andere Erkältungs- und Virenerkrankungen. Wie sollen Schulen, Betriebe und die Öffentlichkeit damit umgehen?

ms: Mit Sicherheit nehmen die Symptome von Erkältungskrankheiten zu, die Menschen bekommen Schnupfen oder Husten. Es gibt Hunderte von Viren, die solche Symptome verursachen, die so genannten Erkältungsviren. Die Symptomatik ist sehr ähnlich und wer glaubt, dass Corona eine klar unterscheidbare Symptomatik hat, der sollte den letzten Cochrane Review durchlesen. Da wird festgestellt, dass die Symptomatik von Covid-19 nicht klar, sondern sogar sehr unklar ist. Es ist ein Chamäleon in der Diagnostik.

Infektionen nehmen jetzt zu, insbesondere bei Kindern, die aber direkt von SARS-CoV-2 und Covid-19 kaum betroffen sind. Aber sie sind natürlich von allen möglichen anderen Erkältungsviren betroffen. Das wird eine spannende Zeit und da sollte man ganz transparent mit Daten umgehen.

Man müsste auf europäischer Ebene einheitliche Standards schaffen, damit man wirklich vergleichbare Daten hat. Es müsste verbindliche Standards geben, was als Covid-19 Todesfall gezählt wird, was als Krankenhausfall – ist es jemand, der im Krankenhaus liegt und positiv getestet wurde, oder erwiesenermaßen infektiös ist, oder wegen einer anderen Krankheit aufgenommen wurde. Wer liegt auf der Intensivstation, wer wird beatmet – wir brauchen Standards um die Informationen sinnvoll auswerten zu können.

Dass diese Informationen nach 6 Monaten noch nicht vorhanden sind, ist mehr als verwunderlich. Genau diese Informationen braucht man in der Pandemie um ein gutes Monitoring aufbauen und wissensbasierte Maßnahmen umsetzen zu können.

Ich hatte im Beraterstab noch gefordert, das bei jedem Test das Geburtsjahr, Geschlecht, Postleitzahl, BMI, Raucherstatus, 3-4 Grunderkrankungen und eventuell der sozioökonomische Status erhoben wird. Das kostet nicht mal eine Minute, ermöglicht aber eine Auswertung, die uns extrem viel Wissen beschafft hätte. Damit hätten wir die epidemiologischen Grunddaten und könnten Regionen vergleichen und andere Parameter untersuchen, wie etwa Luftqualität oder Bevölkerungsdichte. Es werden ja nicht einmal alle negativen Tests gemeldet, sondern nur die die positiv sind, zumindest bei den Tests, die man privat machen lässt.

Das macht auch den Unterschied zwischen Österreich und Deutschland in der Positivenrate aus, wir liegen bei 3 Prozent und Deutschland ungefähr bei 1 Prozent. Wüsste man bei uns die Zahl aller Tests, so würde bei uns wahrscheinlich die Positivenrate auch unter 1 Prozent liegen.

pfm: Was sollen die Schulen im Herbst machen?

ms: Mein Zugang ist ganz pragmatisch folgender: Ich würde Kindergärten und Volksschulen getrennt von höheren Schulen betrachten. Das heißt Kindergärten und Volksschulen vollkommen normal öffnen – keine Masken, kein Testen, kein Abstand halten und auch keine anderen Maßnahmen. Nichts! Vollkommen normal öffnen. Das einzige was klar gemacht werden soll ist, dass kranke Kinder zu Hause bleiben sollen. Natürlich soll man auf Hygiene achten. Und kranke Kinder sollten auch die Großeltern nicht besuchen bzw. Abstand halten. Es hindert übrigens niemand Kindergärten und Volksschulen möglichst viel und oft draußen zu sein. Das mag zwar im Herbst und Winter etwas mühsam sein, Aber in skandinavischen Ländern sind die Kindergartenkinder immer draußen, auch im Winter, und dort ist kein besseres Wetter als bei uns. Man sollte auch mehr lüften – aber das sind alles Empfehlungen, die auch ohne Corona sinnvoll sind.

Es mag Argumente geben die gegen diese Vorgangsweise sprechen. Aber aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht spricht viel, viel mehr dafür. Und diese Betrachtung ist typisch Public Health, die Abwägung von Nutzen und Schaden, von pro und kontra Argumenten, ganz im Sinne einer Gesundheitsfolgenabschätzung.

pfm: Und die höheren Schulen?

ms: Da sollte man einen anderen Zugang entwickeln. Jugendlichen kann man viel mehr erklären. Aber bei den Maßnahmen wäre ich sehr zurückhaltend. Mit dieser Altersgruppe sollte man viel kommunizieren und Wissen vermitteln zum Beispiel über Immunsystem reden, über Pandemie und über sozialen Zusammenhalt. Die Pandemie gibt ganz viele Themen her, die man in vielen Fächern aufarbeiten kann.

Vor den direkten Folgen von Covid-19 braucht man weder kleine Kinder noch Jugendliche zu schützen. Es geht allenfalls um PädagogInnen, die bedroht sind und da muss man dann entsprechende Schutzmaßnahmen treffen. Die sind aber durchaus auch in anderen Umgebungen bedroht, aber es müssen dann eben großzügige Lösungen gefunden werden.

Manche sagen von den Schulen geht das Virus direkt ins Pflegeheim. Da werden Bedrohung richtiggehend konstruiert. Im Infektionsgeschehen sind wir alle beteiligt. Es gibt aber keinen direkten Draht von der Schule ins Pflegeheim und im Gegensatz zur Influenza spielen Kinder im aktuellen Infektionsgeschehen keine so wichtige Rolle.

pfm: Es sind in den vergangenen Wochen immer mehr Studien erschienen, die T-Zellen-Immunität nachgewiesen haben, auch ohne dass sich Antikörper gebildet hätten. Ebenso zeigen immer mehr Studien Kreuzimmunität durch Infektionen mit Corona-Erkältungsviren. Sollte es da nicht rasch eine Möglichkeit geben, das auch auf Bevölkerungsebene testen zu können?

ms: Meine Hoffnung waren im März und April noch, dass wir auf Basis von repräsentativen Antikörperstudien wissen, wie der Verlauf der Pandemie in der Bevölkerung einzuschätzen ist. Da haben wir die Bedeutung der Antikörper überschätzt, da sie eben zum Teil wieder schnell verschwinden. Unser Immunsystem ist aber viel komplexer, es bildet nicht nur Antikörper, sondern auch Gedächtniszellen und verschiedene andere Abwehrmechanismen. T-Zellen und B-Zellen sind noch gar nicht alles, es gibt noch viel mehr. Die Bedeutung der T-Zellen in der Immunreaktion auf eine Infektion mit SARS-CoV-2, aber auch die bestehende Kreuzimmunität zu anderen Coronaviren ist erst in den letzten Monaten so richtig erkannt worden.

Einen Test auf die T-Zellen auch für breite Anwendung zu entwickeln sollte technisch möglich sein. Es geht darum die entsprechenden Ressourcen aufzubringen.

pfm: Wenn ich Immunität durch T-Zellen habe und ohne Symptome angesteckt – bin ich dann infektiös?

ms: Gute Frage. Wer immer asymptomatisch bleibt wird wohl kaum ansteckend sein. In der Präsymptomatik, also den ein bis zwei Tagen bevor man Symptome bekommt, ist man laut Literatur allerdings schon ansteckend.

pfm: Wie ist das mit der Immunität, die über IgA Antikörper in Mund und Rachen vermittelt wird?

ms: Ja, das ist vor allem bei Kindern zu beobachten, die werden die Viren bereits im Mund und in der Nase umgehend los. Sie entwickeln deshalb oft auch keine spezifischen Antikörper.

pfm: Thema Impfung. Wie nützlich ist die Impfung bei gerade den Menschen die geschützt werden müssen? Die US-Gesellschaft für Adipositas sagt ganz klar, dass auf Grund früherer Untersuchungen mit anderen Viren auch jetzt nur ein geringer oder gar kein Schutz durch Impfung zu erwarten ist.

ms: Wenn ein Bundeskanzler und Gesundheitsminister Impfungen ankündigen, dann sollten sie auch ganz sachlich dazu sagen, was man mit der Impfung erreichen will. Eine Impfung muss, so wie jedes Arzneimittel, als erstes sicher sein. Der Impfstoff muss so wie alle anderen Arzneimittel einen gewissen Prüfstandard durchlaufen, damit gewährleistet ist, dass keine gefährlichen Nebenwirkungen auftreten. Ob das in dieser kurzen Zeit geht, bezweifle ich, denn dafür braucht es umfangreiche Studien mit ausreichender Fallzahl über einen längeren Zeitraum.

Das zweite was eine Impfung sein muss – sie muss effektiv sein. Und jetzt sind wir genau in diesem Dilemma, dass die Gruppen, die von SARS-CoV-2 am meisten bedroht sind – und das ist auch das Influenza Dilemma –, dass diese Gruppen hochbetagt sind, multimorbid sind und daher nur eine schlechte Immunantwort aufweisen. Und dazu kommt noch die Gruppe der Adipösen, die ebenfalls oft schlecht oder überhaupt nicht auf eine Impfung reagieren.

Und wenn die Impfung in genau diesen Gruppen nicht besonders effektiv ist, die davon am meisten profitieren würden, dann haben wir ein großes Problem.

Eine weitere offene Frage ist, wie oft die Impfung aufgefrischt werden muss. Es macht einen großen Unterschied, ob diese Intervalle 10 Jahre, drei Jahre oder drei Monate betragen. Das ist ja auch eine Kostenfrage. Außerdem auch eine Frage der Beschaffung und Qualitätssicherung. Die Bevölkerung muss absolut sicher sein können, dass jede Charge der Impfung auch einen sicheren und qualitätsgeprüften Impfstoff enthält.

pfm: Was geschieht mit denen, die durch Antikörper oder T-Zellen bereits immun sind? Müssen die auch geimpft werden?

ms: Wir haben 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung für die SARS-CoV-2 kein Problem darstellt. Bei Kindern und Jugendlichen, allen gesunden Menschen, müssen wir zu Tausend Prozent sicher sein, dass ein zukünftiger Impfstoff sicher ist. Um diese Sicherheit zu gewährleisten reichen Fallzahlen in den Impfstofftests von 500 oder 1000 einfach nicht aus. Da braucht man große Anwendungsbeobachtungen, mit denen gewährleistet wird, dass da nichts passieren kann.

Ich bin absoluter Befürworter von Impfungen. Deshalb möchte ich jedenfalls vermeiden, dass wegen Problemen bei einem Corona-Impfstoff die Akzeptanz von anderen wichtigen Impfungen in der Bevölkerung zurückgeht. Aktuell stehen Impfungen vor der Zulassung mit denen wir völliges Neuland betreten und ich bin da bei weitem nicht so optimistisch wie unsere Regierungsmitglieder. Gerade bei neuen, sogenannten innovativen Arzneimitteln, braucht es mehrere exzellente Studien mit unterschiedlichen Populationen, in unterschiedlichen Settings, um Sicherheit und Wirksamkeit seriös beurteilen zu können.

Dazu kommt eben auch, dass riesige Mengen von Impfdosen in absoluter Top-Qualität produziert werden müssen. In jeder Ampulle muss der gleiche Impfstoff drinnen sein. Und das ist keineswegs so einfach. Das ist nicht einmal bei simplen Tabletten einfach.

Ich bin nicht so optimistisch, dass wir 2021 einen Impfstoff haben, der alle diese Kriterien erfüllt. Man muss im Sinne der Akzeptanz von Impfungen extrem aufpassen. Wenn da etwas schief geht, haben wir den Super-Gau. Wenn dann notwendige Impfungen abgelehnt werden, wäre der Kollateralschaden viel, viel höher, als wenn man sich die Zeit nimmt wirklich sichere und wirksame Impfstoffe in höchster Qualität zu produzieren.

pfm: Noch ein kurzer Schritt zurück. Wann hat Ihrer Meinung nach die Pandemiewelle mit SARS-CoV-2 begonnen? Schlagartig Anfang März? Oder früher?

ms: Eine interessante Frage. Rückblickend würde ich sagen, dass die Aufmerksamkeit erst mit dem Test begonnen hat. Vorher war es unter der Wahrnehmungsschwelle. Es braucht in der Regel ein monatelanges Infektionsgeschehen bevor es zu einem rapiden oder gar exponentiellen Anstieg kommen kann. Es braucht einfach eine ganz lange Vorlaufzeit von mehreren Monaten. Bei SARS-CoV-2 ist es ja so, dass nicht jeder Infizierte andere ansteckt. Es kann sich also immer wieder totlaufen.

Ich glaube, dass das Ganze im Herbst 2019 schon in Europa war, weil es ja auch in China viel früher angefangen hat. Und in der globalisierten Welt ist der Virus schon vorher um die Welt gereist.

In der Lombardei hat sich das Infektionsgeschehen immer mehr aufgebaut und ist dann mit einigen Superspreader-Events voll zum Ausbruch gekommen. Und dann kamen in der Lombardei noch die Cluster von Spitälern und Heimen dazu, die einander gegenseitig aufgeschaukelt haben. Zusätzlich gab es dann in kurzer Zeit sehr viele Fehlentscheidungen, die diese hohe Sterblichkeit verursacht haben.

Mehr als die Hälfte aller Todesfälle in Europa waren Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen. In den USA geht der Anteil der Todesfälle in Heimen in einigen Bundesstaaten bis 80 Prozent. In der Lombardei hat sich durch den Lockdown dann das Infektionsgeschehen in die Mehrpersonen-Haushalte verlegt, wo es auch sehr viele alte, kranke und pflegebedürftige Personen gab, die auf diesem Weg infiziert wurden.

pfm: Würden Sie jetzt in die Lombardei auf Urlaub fahren?

ms: Ja, natürlich.

pfm: Ist die Reisewarnung Stufe 6 für Regionen mit so hoher Antikörper Prävalenz sinnvoll?

ms: Ich halte sowieso nichts von Reisewarnungen. Nicht innerhalb von Europa. Wozu braucht man Reisewarnungen? Leute sollen sich vernünftig verhalten. Ich kann mich im Urlaub genauso vernünftig verhalten wie zu Hause. Urlaubsorte wie Mallorca müssen selber darauf achten, dass Risikobereiche geschlossen bleiben, wo Ansteckungen gefördert würden. Kein europäisches Land steuert mit Absicht einen Risikokurs, aus Public Health Sicht sind die Reisewarnungen absurd.

pfm: Sie wollen sicher noch zum Top Thema Schweden etwas sagen?

ms: Ja, natürlich. Spannend wird sein, wie es in Schweden weiter gehen wird. Bei Schweden hat der Rückgang erheblich länger gedauert als bei uns. Aber jetzt sind sie deutlich besser dran als wir. In den letzten Wochen fast keine Todesfälle und in den Spitälern und Intensivstationen ist ebenfalls sehr wenig los. Und sie sind eines der wenigen Länder in Europa, bei denen auch die positiv getesteten Fälle zurückgehen, obwohl noch immer gleich viel getestet wird.

Ich bin wirklich gespannt, wie sich Schweden in diesen Winter hinein entwickelt. Daraus könnte man ganz viel lernen, auch was Hintergrundimmunität oder Kreuzimmunität betrifft.

Für den Verlauf der Pandemie in Schweden waren meiner Meinung nach drei Faktoren entscheidend. Erstens ein frühes unerkanntes Infektionsgeschehen, viel höher als in anderen skandinavischen Ländern; zweitens gab es in den letzten zwei Wintern eine Untersterblichkeit und drittens sind in den Heimen viele Dinge falsch gelaufen.

Ich bin auch neugierig wie die Politik mit der Situation umgehen wird. Jedenfalls weiß ich von sehr guten Freunden in Schweden, dass die Zustimmungsrate für die Pandemiepolitik der Regierung extrem hoch ist. Die Menschen fühlen sich gut informiert und sind hochzufrieden.

pfm: Wie beurteilen sie die Plände der Regierung mit der Ampel?

ms: Eine verständliche Risikokommunikation ist wichtig. Deshalb finde ich eine Ampelregelung nach wie vor gut. Jetzt muss aber noch unbedingt öffentlich gemacht werden, was die Kriterien für Grün, Gelb, Orange und Rot sind.

Es braucht klare, präzise, verständliche und (auch wissenschaftlich) nachvollziehbare Kriterien. Eine Geheimkommission mit einer intransparenten Entscheidungsfindung darf es nicht geben. Das wäre ein demokratiepolitisches Desaster. Idealerweise wird jede Entscheidung der Kommission, auf Basis der vom Gesundheitsministerium empfohlenen 15 „Qualitätskriterien der Guten Gesundheitsinformation“, veröffentlicht.

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