
Art. 122 TFEU und die eingefrorenen russischen Vermögenswerte
Dieser Tage tritt der EU-Rat in Brüssel zusammen und befindet über die Zukunft der EU. Neben dem EU-Budget 2028-34 geht es auch um Fragen der EU-Erweiterung und die geo-ökonomischen Großwetterlage – der mit Abstand bedeutungsschwerste Tagesordnungspunkt ist jedoch zweifelsfrei die Frage der eingefrorenen russischen Vermögenswerte.
Während die Staats- und sonstigen Medien gewohnt (des-)informieren – siehe hier das Beispiel des ORF – geht es am 18./19. Dez. 2025 mehr oder minder um Alles oder Nichts, wie etwa Euronews treffend berichtet (wenn nicht anders ausgewiesen, so stammen die Übersetzungen ins Deutsche und Hervorhebungen von mir):
Die Europäische Union hat zugestimmt, die Vermögenswerte der russischen Zentralbank…auf unbestimmte Zeit einzufrieren. Über die Einfrierung der Vermögenswerte wird derzeit noch intensiv verhandelt, bevor nächste Woche ein entscheidender Gipfel stattfindet…
Deren langfristige Immobilisierung wurde am Donnerstagnachmittag [11. Dez. 2025, Anm.] von den Botschaftern vereinbart [aber das ist zu heikel/nicht praktikabel/übersteigt ihre Kompetenzen, daher wird der EU-Rat darüber beraten™] erfolgt gemäß Artikel 122 der EU-Verträge, der lediglich eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten erfordert [was in erster Linie die Abschaffung des bisher unantastbaren Einstimmigkeitsprinzips aufgrund der von Ursula von der Leyen ausgerufenen Notlage™ bedeutet] und das Europäische Parlament umgeht [d.h. es gibt keinerlei Kontrolle, außer durch den EU-Rat, dessen Beratungen geheim – vertraulich™ im EU-Jargon – sind und alles, was Sie, ich oder irgendjemand sonst, der zum gemeinen Volk gehört, jemals zu hören bekommt, sind: jenseitige Postings in den Sozialen Medien und Pressekonferenzen].
Das Gesetz [sic] verbietet die Verfügung der 210 Milliarden Euro an Vermögenswerten durch die russische Zentralbank [man beachte, wie schnell wir von Artikel 122 des Vertrags von Lissabon zum Gesetz übergegangen sind]. Der Großteil der Vermögenswerte, 185 Milliarden Euro, wird von Euroclear, einer zentralen Wertpapierverwahrstelle [orig. central securities depositories] in Brüssel, verwaltet. Die verbleibenden 25 Milliarden Euro befinden sich in Privatbanken.
Wie der vorletzte Satz deutlich macht, handelt es sich um eine „Zentralverwahrer“, die, um es mit den Worten der EU selbst zu sagen (und nein, ich erfinde das nicht):
Zentralverwahrer spielen eine zentrale Rolle auf den Kapitalmärkten und im Finanzsystem der EU, da sie die Infrastruktur betreiben, die die Abwicklung von Wertpapieren (wie Aktien oder Anleihen) auf den Finanzmärkten ermöglicht.
Im Grunde gehört die betreffende Firma „Euroclear“ zu den untersten Steinen des Jenga-ähnlichen Turms, den man als EU-Kapitalmarkt und Finanzsystem betrachtet kann.
Übersetzt heißt das: Wenn man sich selbst ins Knie schießen will (oder, wie im Falle der EU, etwas höher), dann zielt man genau dorthin, wenn man eine Krise herbei beschwören will.
Während Sie weiterlesen, fragen Sie sich: Was könnte schon schiefgehen, wenn eine gleichsam jeglicher Verantwortlichkeit entrückte Politikerin wie Ursula von der Leyen, mit der Unterstützung der Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, einfach in den Porzellanladen („die Finanzsysteme der EU“) platzt und beginnt, wie wild um sich zu schlagen?
Wenn Ihre Antwort in etwa lautet: „Das klingt weder vernünftig noch besonders klug“, dann liegen Sie fast völlig richtig.
Und hier ist ein rund 40,7 Billionen Euro schwerer Grund, warum diese Positionierung der EU ein Riesenproblem ist:

Gemäß der Weltbank und ungeachtet der methodischen Mängel betreffend die Berechnung der Weltwirtschaftsleistung etc., so belief sich das globale BIP im Jahr 2024 auf fast 111 Billionen US-Dollar.
Euroclear verwahrt also Vermögenswerte im Wert von 40,7 Billionen Euro, was, umgerechnet in US-Dollar von 2024 (1 Euro = 1,18 US-Dollar), etwa 48 Billionen US-Dollar entspräche – oder etwas mehr als 43 Prozent des globalen BIP (ich verwende US-Dollar von 2024, da die aktuellsten Daten der Weltbank aus diesem Jahr stammen).
Man muss sich das mal vorstellen.
Die Staats- und Regierungschefs der EU beratschlagen im Moment tatsächlich, Vermögenswerte fremder Staaten von einer Firma zu beschlagnahmen, die einer der wichtigsten Bestandteile des gesamten EU-Finanzsystems ist.
Und das Beste (Absurdeste) daran ist – man beruft sich seitens der EU ausdrücklich auf Art. 122 des Lissabonner Vertrags.
Was also steht in Art. 122 TFEU und was ist dessen Bedeutung?
Gemäß der englischen Version des Lissabonner Vertrags umfasst Art. 122 zwei Bestimmungen:
1. Without prejudice to any other procedures provided for in the Treaties, the Council, on a proposal from the Commission, may decide, in a spirit of solidarity between Member States, upon the measures appropriate to the economic situation, in particular if severe difficulties arise in the supply of certain products, notably in the area of energy.
2. Where a Member State is in difficulties or is seriously threatened with severe difficulties caused by natural disasters or exceptional occurrences beyond its control, the Council, on a proposal from the Commission, may grant, under certain conditions, Union financial assistance to the Member State concerned. The President of the Council shall inform the European Parliament of the decision taken.
Erstens sieht Artikel 122 (1) Notfallmaßnahmen vor, falls einer der 27 Mitgliedstaaten in große Schwierigkeiten gerät. Dies ermöglicht es dem EU-Rat – also den Staats- und Regierungschefs, die sich heute und morgen treffen –, „geeignete Maßnahmen“ zu ergreifen.
Zweitens lohnt es sich, die Formulierung der EU-Pressemitteilung vom 12. Dezember 2025 noch einmal genauer zu betrachten:
Die Maßnahmen werden solange aufrechterhalten, solange die Bereitstellung von Ressourcen für Russland schwere wirtschaftliche Schwierigkeiten innerhalb der Union verursacht oder zu verursachen droht.
Und nun vergleichen Sie dies mit Artikel 122 Absatz 2:
Wenn ein Mitgliedstaat in Schwierigkeiten gerät oder ihm schwere Schwierigkeiten ernsthaft drohen…
Ich bin sicher, Sie erkennen sofort, welche Tricks hier angewendet werden.
Art. 122 TFEU ist übrigens seit einigen Jahren weithin dafür bekannt, sehr problematisch zu sein, wie etwa dieses Briefing des EU-Parlaments vom 11. April 2025 ausweist:
Rechtsgrundlagen in Artikel 122 TFEU: Bewältigung von Notfällen durch Exekutivakte
Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sieht zwei Rechtsgrundlagen vor, die es dem Rat ermöglichen, auf Vorschlag der Europäischen Kommission Maßnahmen zu ergreifen, ohne das Europäische Parlament in irgendeiner Weise einzubeziehen [Artikel 122 ist also eine Art Notstandsparagraph]. Artikel 122 Absatz 1 befasst sich mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Mitgliedstaaten, und Artikel 122 Absatz 2 regelt insbesondere die finanzielle Unterstützung der Mitgliedstaaten. Es versteht sich, dass der Rat in Ausnahmefällen auf Artikel 122 AEUV zurückgreifen kann. Ein aktuelles Beispiel für die Anwendung von Artikel 122 AEUV ist der Vorschlag der Kommission vom 19. März 2025 zur Einrichtung der Sicherheitsmaßnahme für Europa (SAFE). Ziel dieser Maßnahme ist es, den Unionshaushalt zu mobilisieren, um nationale Investitionen in die Verteidigung zu unterstützen und zu beschleunigen [was der außergesetzlichen, wenn nicht gar illegalen Zusammenlegung gemeinsamer EU-Schulden entspräche, die wir unter anderem hier erörtert haben; Zeilenumbruch hinzugefügt].
Die beiden in Artikel 122 AEUV verankerten Rechtsgrundlagen werden zusammengenommen als Grundlage eines EU-„Notstandsgesetzes“ betrachtet. Sie wurden dafür gelobt, dass sie der Union eine schnelle Reaktion auf sich entwickelnde Krisen ermöglichen, gleichzeitig wird die Umgehung des Europäischen Parlaments jedoch als Einschränkung der demokratischen Legitimität angesehen.
Hier ist das PDF des besagten Briefings, für das wir zum jetzigen Zeitpunkt leider keine Zeit haben. Wir haben Wichtigeres zu tun, wie zum Beispiel die „demokratische Legitimität“ des Einsatzes von Art. 122 zu erkunden.
Apropos demokratische Legitimität oder, um genauer zu sein und das Europäische Parlament erneut zu zitieren: „Die Umgehung des Europäischen Parlaments wird als Einschränkung der demokratischen Legitimität angesehen“, erlaube ich mir den Hinweis auf die mehr als 50 Seiten umfassende Studie von Prof. Merijn Chamon (Universität Maastricht), die den Titel „The Use of Article 122 TFEU: Institutional implications and impact on democratic accountability“ trägt und deren Lektüre ebenso ausgesprochen relevant ist. Hier ist der Abstract in meiner Übersetzung:
Diese Studie, die vom Referat für Bürgerrechte und Verfassungsangelegenheiten im Auftrag des AFCO-Ausschusses erstellt wurde, untersucht die Besonderheit von Artikel 122 AEUV als nicht-legislative Rechtsgrundlage, nach der das Europäische Parlament nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen ist. [Das muss man den Eurokraten lassen: Eine „nicht-legislative Rechtsgrundlage“, die es ermöglicht, den Gesetzgeber zu umgehen, ist, um es klar zu sagen, nichts anderes als ein „Dekret“ oder eine „Exekutiv-Anordnung“ ohne Gesetzesgrundlage oder, um es mit einem Wort zu sagen, die Wörterbuchdefinition von Tyrannei]. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die jüngste Anwendung von Artikel 122 AEUV rechtlich vertretbar war, der Rat die Klausel „unbeschadet der Rechte und Pflichten“ in Artikel 122 Absatz 1 AEUV jedoch nicht ausreichend berücksichtigt. [Hier wird der Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.] Die Analyse zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, die Position des Parlaments nach dem geltenden Artikel 122 AEUV zu stärken, und unterbreitet Vorschläge für eine Vertragsänderung.
Hier folgen noch ein paar Zeilen aus der Zusammenfassung (S. 6-8):
Um die Verfassungsmäßigkeit der Inanspruchnahme von Artikel 122 AEUV durch den Rat zu beurteilen, muss dessen besonderer, nicht-legislativer Charakter hervorgehoben werden. Zwar führt dies zu weniger transparenten Entscheidungsverfahren und geringerer parlamentarischer Beteiligung, doch sind diese geringere Transparenz und Beteiligung an sich nicht relevant für die Beurteilung der Inanspruchnahme der Rechtsgrundlagen des Artikels 122 AEUV durch den Rat. Denn letztendlich bestimmen nicht die Verfahren die Rechtsgrundlage einer Maßnahme, sondern die Rechtsgrundlage einer Maßnahme bestimmt das anzuwendende Verfahren [Art. 122 ist jedoch der Notstandsparagraph].
Der genaue Anwendungsbereich der beiden Rechtsgrundlagen des Artikels 122 AEUV ist wie folgt zu verstehen: Nur Artikel 122 Absatz 2 AEUV stellt eine echte Notfall-Rechtsgrundlage dar. Artikel 122 Absatz 1 AEUV ist keine Krisen-Rechtsgrundlage und hat daher einen weiter gefassten Anwendungsbereich. Der dem Rat durch Artikel 122 Absatz 1 AEUV verliehenen außergewöhnlich weitreichenden Befugnis sind zwei wesentliche Grenzen gesetzt. Erstens darf die Inanspruchnahme von Artikel 122 Absatz 1 AEUV zur Gestaltung der Wirtschaftspolitik den Grundsatz aus Artikel 2 Absatz 3 und Artikel 5 Absatz 1 AEUV, wonach die Mitgliedstaaten die primären Akteure der Wirtschaftspolitik bleiben, weder untergraben noch umkehren. Zweitens sieht Artikel 122 Absatz 1 AEUV vor, dass er andere Rechtsgrundlagen der Verträge unberührt lässt. Dies führt jedoch nicht zu einer absoluten Priorität dieser anderen Rechtsgrundlagen gegenüber Artikel 122 Absatz 1 AEUV [was einmal mehr zeigt, dass es sich um einen Ermächtigungsakt handelt]. Vielmehr können Maßnahmen, deren Ziel und Inhalt auf eine andere Rechtsgrundlage der Verträge hinweisen, weiterhin auf der Grundlage von Artikel 122 Absatz 1 AEUV ergriffen werden, wenn der Kontext dies erfordert.
Wenn Sie beim Lesen dieser akademischen Prosa bisweilen an den deutschen Juristen Carl Schmitt gedacht haben („souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet„), so ist die Antwort sowohl vollkommen offensichtlich als auch ausgesprochen deutlich:

Ich denke, man kann getrost annehmen, wenn auch ohne Gewissheit, dass die EU-Führung keine Ahnung davon hat, was sie tut.
„Euroclear“ wird in großen Schwierigkeiten kommen, und für ein Unternehmen, das Vermögenswerte im Wert von rund 40 Prozent des globalen BIP verwaltet, ist das die wohl berechtigtste Annahme.
Die EU und ihre unfähigen Führungskräfte werden sich „Euroclear“ bald anschließen, schon allein deshalb, weil sie noch verantwortungsloser sind als erwartet: Wenn Jeder mit etwas Verstand der EU-Kommission sagt, dass das Vorgehen mit den eingefrorenen russischen Vermögenswerten eine Schnapsidee ist, sollte man besser in Betracht ziehen, dass sie damit Recht haben könnten.
Was auch immer heute und morgen in Brüssel passiert, die Welt wird danach nicht mehr dieselbe sein: Auch wenn die EU-Führung doch noch zurückrudern sollte, so werden sie wohl kaum etwas daraus lernen.
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Kleine Anmetkung: Das EU-Parlament ist keine Legislative, da ihm kein Initiativrecht zukommt. Dies kommt der Kommission zu. Zudem ist das EU-Parlament nicht repräsentativ, damit das EU-Volk kein Souverän und die EU keine Demokratie, sondern eine Tyrannis. Danke Werner Weidenfels! Aber die nationalen Parlamente und Höchstgerichte haben dem zugestimmt.
„Ich denke, man kann getrost annehmen, wenn auch ohne Gewissheit, dass die EU-Führung keine Ahnung davon hat, was sie tut.“
Die EU-Führung, aka Leyen und Merz, weiß genau, was sie tut, weil es ihr der IWF, Chefin ist die Bulgarin Georgiewa, die zuvor Vizepräsidentin der EU-Kommission Juncker und davor EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe und Krisenschutz in der Kommission Barroso war, also keine ausgesprochene Putin- oder Trump-Freundin, gesagt hat. EZB-Chefin Lagarde offenbar auch.
Merz hat auf Kritik geantwortet, man müsse das trotzdem tun, da die Ukraine endlich Frieden verdient hätte. Mobilisierung von Kriegskrediten für Frieden, soso.
Ich biete als Erklärung an, dass die maßgeblichen Protagonisten zu stark geimpft wurden. Dies kann nachweislich zu kognitiven Problemen führen, weil Entzündungsprozesse in Hirn entstehen.
Das ist allerdings keine Erklärung dafür, warum die Intelligentia nicht kollektiv aufgeschrien hat.
Da es mittlerweile Surrogatparameter für die Hirnstenose gibt, bin ich dennoch der Auffassung, Funktionsträger hätten regelmäßig nachzuweisen, dass sie sich nicht dumm und deppat gespritzt haben.
Die EU wirds über kurz oder lang zerreißen, anders kanns gar nicht sein!