Kann Europa den Winter ohne russisches Gas überleben? Experten bewerten die Lage

20. August 2024von 3,7 Minuten Lesezeit

Trotz der Bemühungen, die russischen Gasimporte zu reduzieren, hat die EU seit dem Terroranschlag auf die Nord-Stream-Pipeline kaum Fortschritte gemacht. Analysten sind der Meinung, die EU den Winter möglicherweise ohne russisches Gas überstehen könnte, müsste aber die Nachfrage erheblich reduzieren und regulatorische Herausforderungen meistern.

In den letzten zwei Jahren hat die EU-Kommission einen Kampf gegen die Verwendung von russischen Energierohstoffen geführt. Sie verhängte zunächst im Dezember 2022 ein Embargo für die Einfuhr von Rohöl aus Russland, gefolgt von einem Embargo für Ölprodukte (einschließlich Benzin und Diesel) im Februar 2023. In der Zwischenzeit sind die russischen Erdgaseinfuhren von etwa 450 Millionen Kubikmetern pro Tag (mcm/d) Ende 2021 auf derzeit etwa 150 mcm/d gesunken.

Die verbleibenden Gasströme verteilen sich in etwa auf LNG, Pipelineströme durch die Ukraine und andere Pipelinerouten (hauptsächlich Ströme über die Türkei nach Bulgarien sowie ein kleiner Strom über Weißrussland nach Litauen). Europa hat nun zwei Wintersaisons mit reichlich Gas hinter sich gebracht, obwohl die russischen Importe drastisch reduziert wurden.

Die europäischen Gasspeicher waren zum Ende der Wintersaison im April 2024 zu fast 60 % gefüllt, was einen Rekord für das Ende der Wintersaison darstellt.

Auf den ersten Blick erscheint diese Leistung beeindruckend. Sie täuscht jedoch über die Tatsache hinweg, dass der Kontinent in den letzten zwei Jahren kaum Fortschritte bei der Reduzierung der russischen Lieferungen gemacht hat, obwohl einige Länder den vollständigen Verzicht auf russische Energierohstoffe fordern.

Die Energierohstoffanalysten von Standard Chartered berichten laut einem Artikel im Fachmagazin Oilprice sogar, dass seit der Einstellung der Gaslieferungen durch das Nord-Stream-Pipelinesystem keinerlei Fortschritte bei der Reduzierung der Importe erzielt wurden. Im Gegenteil: Die europäischen Gasimporte aus Russland sind seit Q1-2023 um 50 % gestiegen.

Im Jahr 2019 unterzeichneten Russland und die Ukraine ein fünfjähriges Pipeline-Transitabkommen zur Lieferung von Erdgas nach Europa. Kiew hat jedoch signalisiert, dass es das Abkommen nicht verlängern wird, wenn es am 31. Dezember 2024 ausläuft, während EU-Energiechef Kadri Simson angedeutet hat, dass die EU-Exekutive „kein Interesse“ an einer Wiederbelebung des Abkommens hat.

Der Anteil des über die Ukraine kommenden Gases an den gesamten Gasimporten der EU beträgt 5 %. Aura Sabadus, eine leitende Analystin des Marktforschungsunternehmens ICIS, erklärte gegenüber Politico, dass Österreich, Ungarn und die Slowakei wahrscheinlich am stärksten betroffen sein werden, wenn die Importe unterbrochen werden. StanChart zufolge gibt es jedoch auch anderswo genügend Kapazitäten, um die Gasströme über die Ukraine zu ersetzen. Die Rohstoffanalysten haben darauf hingewiesen, dass die nicht-russischen LNG-Ströme in die EU seit April um ca. 140 Mio. m3/Tag zurückgegangen sind, was ausreichen würde, um russisches LNG fast dreimal zu ersetzen. Allerdings sind die Kosten dafür erheblich höher und die Preise schwanken, während mit russischen Quellen Fixpreisverträge bestehen.

Die Einschätzungen von StanChart werden weitgehend durch die Ergebnisse von Bruegel, einem in Belgien ansässigen Thinktank für Wirtschaftsfragen, bestätigt, allerdings mit einigen wichtigen Vorbehalten. Bruegel hat sich eingehend mit der Frage befasst, wie es der EU ergehen würde, wenn der russische Gasfluss nach Europa unterbrochen werden würde.

Die wichtigste Schlussfolgerung sei, dass die EU nicht nur den nächsten Winter ohne russisches Gas überstehen könnte, sondern auch, ohne eine wirtschaftliche Katastrophe erleben zu müssen. Dazu müsste Europa jedoch große technische und regulatorische Herausforderungen bewältigen und außerdem seinen jährlichen Erdgasbedarf um 10-15 % senken, da die nicht-russischen Importe nicht ausreichen würden, um die Speicher vor dem nächsten Winter ausreichend aufzufüllen.

Diese Einschätzung übersieht allerdings, dass immer mehr Unternehmen wegen der unklaren Energiesituation und den stark steigenden Preisen ihre Produktion in Länder mit vernünftiger Energiepolitik entweder bereits verlegt haben oder es planen. Die Rezession in Deutschland ist genau darauf zurückzuführen und würde sich weiter verschärfen.

Norwegen und die USA haben Russland als Europas größten Gaslieferanten abgelöst: Im vergangenen Jahr lieferte Norwegen 87,8 Mrd. Kubikmeter Gas nach Europa, was 30,3 % der Gesamteinfuhren entsprach, während die USA 56,2 Mrd. Kubikmeter lieferten, was 19,4 % der Gesamteinfuhren entsprach.

Bild: Jan Arrhénborg / AGA, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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2 Kommentare

  1. Andreas I. 20. August 2024 um 16:58 Uhr - Antworten

    Hallo,
    wenn jetzt noch irgendeine dieser schlauen Denkfabriken herausfinden würde, was der Sinn der ,,Sanktionen“ sein soll … :-)

  2. Jan 20. August 2024 um 11:07 Uhr - Antworten

    Aus dem Maghreb erreichen relevante Mengen Spanien und Italien, die sich auch noch ein wenig umverteilen lassen. Norwegen und die USA werden Europa nicht dauerhaft versorgen können, die USA reduzieren gerade den LNG-Export und erhöhen Importe aus Kanada.

    Die hohe Abhängigkeit von Russland trotz hohem Entflechtungsdruck zeigt, dass „die freien Märkte“ nicht (mehr) funktionieren und sich zu Verkäufermärkten wandeln. Man kann nicht, wie Nehammer versucht hat, nach Katae fahten und einkaufen. Selbst Österreich kann das nicht, was sollen ärmere Länder machen?

    Und das ist ein ziemlich sicheres Zeichen für Ressourcen unter dem Bedarf – zu einem vernünftigen Preis. Man heizt nicht, wenn man sich dann das Essen nicht leisten kann. Die OPEC+ hat über Jahre getestet, wie hoch sich der Preis schrauben lässt, auch um dem US-Fracking und Wind und Solar zu helfen. Ab einem bestimmten Niveau fällt der Absatz und es kommt zum Abschwung.

    Das limitiert alternative Energie und auch zB Tiefenbohrungen. Der Abschwung wird nicht von einer konjunkturellen Erholung gefolgt, es beginnt Degrowth, in dessen Folge die Finanzmärkte wackeln. Die mächtigen Staaten versuchen die Kosten durch Krieg zu drücken, wegnehmen ist billiger als kaufen, verursacht aber Kriegskosten. Das ist klassische Peakoil-Theorie.

    Die Peakoil-Gegner sagen nun, das stimmt nicht, es passiert nicht aufgrund logischer Gesetzmäßigkeiten, sondern aufgrund einer Verschwörung.

    Es handelt sich um die Einschätzung komplexer Systeme, immer sehr schwierig.

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