
Klopapier aus Russland – Findige Unternehmer sind „im russischen Exil“ gern gesehen
Das erste Buch des Tausendsassas Silvio Siegel heißt „Mit Kreativität zum Erfolg in Russland“ und soll einen Leitfaden bieten, erfolgreich nach Russland auszuwandern. Silvio hat sich diesen Traum bereits 2010 erfüllt, nachdem er schon seit 2008 als externer Mitarbeiter von VW dort gearbeitet und dort seine Frau kennengelernt hatte.
Er lebt zwar nicht im Exil, verbringt immer wieder Zeit in Deutschland bei Familie und Freunden, hat aber seinen Wohnsitz 2024 aufgegeben, nachdem er auch seine deutsche Firma geschlossen hat.
Kannst Du Dich bitte kurz vorstellen?
Ich heiße Silvio Siegel und bin 1976 in Aschersleben in der ehemaligen DDR geboren. Meine Ausbildung zum Kommunikationselektroniker, Fachrichtung Informationstechnik bei der Bahn begann ich nach der Wende. 1996 war bei der Bahn aber Einstellungsstopp, so dass ich nicht übernommen wurde. Eine kurze Zeit der Arbeitslosigkeit genoß ich am Anfang, es wurde aber dann langweilig, weil alle Kumpels bei der Arbeit waren. Also habe ich mich selbstständig gemacht, habe bei Siemens in der IT als Externer angefangen und landete dann als Subunternehmer von Siemens bei VW in Wolfsburg. Also bin ich jede Woche gependelt.
Das ging bis 2008 – dann hat mich VW gefragt, ob ich nicht Lust hätte, beim Aufbau des Werks in Kaluga mitzuarbeiten und die IT aufzubauen. Also Server, Netzwerke, Security, Video-Überwachung bis hin zum Brandmelder – alles, was man im Betrieb eines Werkes an IT braucht. Ich habe die Planung verantwortet und war Projektleiter für die russischen Lieferanten.
- Mayer, Peter F.(Autor)
Warum hat VW gerade Dich gefragt?
Ich sprach zwar nicht russisch, konnte es aber lesen und schreiben. Personal war knapp, weil sie zeitgleich drei weitere Werke in Indien, USA und China gebaut haben. Ich war in der DDR mit Russen aufgewachsen, regelmäßiger Schüleraustausch war bei uns normal und Druschba im Sinne von Völkerfreundschaft lag mir am Herzen. Darüber hinaus war ich ehrgeizig, mache immer wieder gerne was Neues. Es war ein spannendes Projekt.
Und warum bist Du geblieben?
Das Projekt lief 1,5 Jahre. In dieser Zeit habe ich dann meine russische Frau kennengelernt. Es war also ein klassischer „Hängenbleiber“, den gibt es im Service-Bereich in allen Ländern, meistens wegen der Liebe.
Als der Vertrag abgelaufen war, sollte ich beim neuen Werk in Malaysia mitarbeiten. Allerdings: Frisch verliebt, wollte ich meine Freundin nicht zurücklassen. Ich wollte auch nicht aus Russland weg. Nach Deutschland zurückzugehen war für uns keine Option. Sie sprach kein Deutsch, besaß keinen Führerschein und wollte ihre Kindertanzschule auch nicht aufgeben. Irgendwo putzen zu gehen, wäre nicht ihr Ding gewesen. Also blieb ich.
Von was hast Du dann gelebt?
Geld zu verdienen war anfangs ein Problem. Es blieb nur die Selbstständigkeit. Also habe ich meiner Anteile an meiner deutschen GmbH verkauft und mit dem Geld eine russische Firma gegründet.
Und das ging so leicht?
Jeder Russe hat mir gesagt: Das geht nicht. Und jeder Deutsche hat mir gesagt: Bist Du verrückt? Aber dann habe ich einen russischen Kollegen gefunden, der nur meinte: „Warum soll das nicht gehen, wir müssen nur herausfinden, wie“. Er hat sich für mich auf den langen Marsch durch die Institutionen gemacht und hat geklärt, wie es geht. Damit sich andere nicht so quälen müssen, habe ich das „Handbuch für Auswanderer nach Russland“ geschrieben. Auch heute ist es nicht so einfach.
Wie lief das bei Dir mit dem Visum?
Ich habe mit einem Arbeitsvisum angefangen. Zuerst habe ich die GmbH in Russland gegründet. Als Besitzer dieser russischen GmbH konnte ich festlegen, wer Generaldirektor wird. Dazu habe ich mich selbst bestimmt. Dann hat der Generaldirektor – also ich – mir eine Einladung geschrieben, so dass ich mit Geschäftsreise-Visum nach Russland fliegen konnte. Dann habe ich mit mir einen Arbeitsvertrag verhandelt, der dann die Grundlage für mein Arbeitsvisum bildete. Das Visum für mich habe ich dann über mehrere Jahre immer wieder verlängern lassen.
Irgendwann hat man mich dann aufgefordert, die RWP zu machen. Das ist die kleine befristete Aufenthaltsgenehmigung, die in eine unbefristete umgewandelt werden kann.
Hat Dir Deine Ehe mit einer Russin nicht geholfen?
Geheiratet haben wir erst 2013 in Las Vegas.
Warum denn in den USA und nicht in Deutschland oder Russland?
Da wir beide Kinder aus unseren früheren Beziehungen hatten, ist das höchstkompliziert. Wir wollten zuerst in Deutschland heiraten, aber dafür braucht man unzählige Dokumente, notariell übersetzt und beglaubigt. Das hätte über 2500 Euro Kosten verursacht. Als ich sagte, so wird das nichts, brach meine Freundin in Tränen aus. Aber auch in Russland war es problematisch. Ich hätte alle Dokumente aus Deutschland liefern müssen. Übersetzt und beglaubigt natürlich. Das wäre ebenfalls extrem teuer geworden.
Wie habt Ihr das dann gelöst?
Wir sind darauf gekommen, dass es eine internationale Unternehmung gibt, die für Fälle wie unseren Hochzeiten in Las Vegas organisiert. Da schickt man seinen Pass hin, organisiert sich ein Visum, die bereiten in Las Vegas alles vor – und schon wird man von „Elvis“ getraut.
„Elvis“ hat die Lizensierung, dass er trauen darf. Das läuft über das Einwohnermeldeamt in Las Vegas, dort bekommt man sämtliche Heiratsdokumente und die Eheschließung wird eingetragen. Die werden von denen vor Ort noch apostilliert und können dann auf russisch und deutsch übersetzt werden.
Die Firma hat 350 Euro für die Organisation verlangt, 300$ kamen für Elvis hinzu und die Flugkosten für uns beide betrugen damals 1100 Euro. Wir haben nicht nur unsere Flitterwochen dort verbracht, sondern ich habe auch meinen Geburtstag gefeiert. Und das war günstiger als allein die Übersetzung der Dokumente in Deutschland.
Bist Du nur wegen Deiner Frau in Russland geblieben?
Nein, auch wenn sie der Hauptgrund war. Es gefällt mir dort. In Russland fühle ich mich freier als in Deutschland. Es gibt in beiden Staaten Gesetze, aber in Russland ist man nicht so pingelig. Wenn Du in Deutschland fischen willst, musst Du einen Lehrgang machen, wann man einen Fisch zurückwerfen muss, wenn dieser zu klein ist. Das muss man natürlich genau messen. In Russland angelt man einfach und wenn man denkt, dass der Fisch zu klein ist, schmeisst man ihn wieder rein. Da reicht der gesunde Menschenverstand. Nur eines von unzähligen Beispielen.
Die Freiheit in Russland kann man schlecht beschreiben, das muss man erleben, von Deutschland aus kann man das nicht beurteilen.
Was mich an Deutschland auch nervt, ist, dass Leistung nicht anerkannt wird und immer mehr Menschen sich in den Sozialsystemen ausruhen dürfen. Und damit meine ich nicht nur Ausländer. Auch Deutsche nutzen das System aus.
Martin von Moya Rossija nannte das den Mangel an Eigenverantwortung in Deutschland und Österreich. Man habe zu viel an „Vater Staat“ übertragen. Das macht die Menschen wenig resilient.
Ja. Russland ist härter. Der Staat sagt: „Du kannst hier alles im Rahmen des Gesetzlichen machen, zahle Deine Steuern und ruhe Dich nicht auf Kosten der Gesellschaft aus. Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, werden wir Dir nicht helfen.“
Ich musste russisch lernen, Steuern bezahlen, mich anpassen und lernen, die Kultur zu verstehen. Ich bin jetzt voll integriert, weil ich es musste.
In Deutschland werden Milliarden Euros ausgeben, damit sich Menschen integrieren. Das funktioniert nicht. Warum sollte sich jemand integrieren, wenn er auch so einfach Geld bekommt. Das hat nichts mit Herkunft oder Hautfarbe zu tun, einfach mit dem Druck, der besteht, wenn es einem nicht leicht gemacht wird. Viele Migranten in Deutschland sprechen selbst nach längerer Zeit kaum Deutsch. Ich musste lernen, lernen, lernen – um mit Kunden oder Bekannten kommunizieren zu können.
Wenn ich meinen „Pass verloren“ hätte, hätten die mich massiv unter Druck gesetzt und vermutlich des Landes verwiesen. In Europa ist das kein Thema.
Die Sozialsysteme werden missbraucht. Sie wurden für wirklich Bedürftige erschaffen – nach einem Unfall, einer Katastrophe oder im Alter. Da sind sie sinnvoll. Sie sind nicht dazu da, Arbeitsmigranten durchzufüttern. Ich habe mit meinem Arbeitsvisum Steuern gezahlt, sonst wäre es nicht verlängert worden.
Wie lief es denn mit dem Firmenaufbau?
Ich hatte Glück. Ich kannte die Mitarbeiter von VW in Kaluga, bekam mein erstes kleines Projekt, bei dem ich in der Produktion eine Audio-Team-Insel aufbauen sollte. Dann kamen größere Projekte, bei denen ich immer mehr dazu gelernt habe. Das größte Projekt hatte ein Volumen von 8 Millionen für Fördertechnik. Das war 2015, da hat meine russische Firma sogar in Hannover gearbeitet. Dafür musste ich extra eine deutsche Firma gründen, die das Material gekauft und an die russische Firma weiterverkauft hat.
Diese Projekte haben wir bis 2022 gemacht. Dann kamen die Sanktionen und ich wurde in weltweiten Ausschreibungen über Global Sourcing nicht mehr angefragt. Wir haben dann nur noch die laufenden Projekte abgeschlossen und das war es.
Wie ging es dann weiter?
Das war natürlich erstmal ein Loch. Meine großen Kunden waren alles deutsche Firmen und in Westeuropa will bzw. darf niemand mehr mit Russland zusammenarbeiten. Aber wir machen immer noch Fördertechnik und daher habe ich mich bei russischen Kunden beworben, die mit deutschen Firmen zusammengearbeitet haben. Da ich inzwischen gut russisch spreche und belegen konnte, dass wir das wirklich können, hat sich das Geschäft wieder gut entwickelt.
Gab es aufgrund der Sanktionen für Dich als Deutscher keine Probleme?
Nein. Vor 12 Jahren hat ein Besoffener auf der Straße mal zu mir gesagt, ich sei ein Nazi. Das war das einzige Mal in den letzten 16 Jahren. Ich mache eigentlich bis heute trotz deutscher Kriegseinmischung nur positive Erfahrungen.
Du bist weiterhin regelmäßig in Deutschland?
Bis 2022 musste ich als Projektleiter viel vor Ort sein. Außerdem leben meine Eltern noch in Deutschland, die ich immer wieder besuche. Aber das Reisen ist viel schwieriger geworden. Moskau-Berlin waren früher zwei Stunden, heute sind es je nach Verbindung 12-15 Stunden. Aber ich bin froh, dass ich immer wieder nach Russland zurück fliegen kann.
Wieso? Wie siehst du Deutschland?
Es hat sich so entwickelt, wie ich befürchtet hatte. Die wirtschaftliche Entwicklung ist eine Katastrophe, Arbeit lohnt sich nicht. Die Spaltung Ossi/Wessi ist immer noch gravierend. Hätte man das Geld, dass man in der Ukraine und sonstwo verpulvert, investiert, um Unterschiede zwischen Ost und West auszugleichen, gäbe es heute nicht die ganzen Probleme. Seit die Mauer gefallen ist, wird die Lebensleistung der Ostdeutschen nicht anerkannt. Im Gegenteil. Ihre Lebensleistung wurde durch die Enteignung im Rahmen der Übernahme der DDR zerstört.
Antirussisches habe ich schon 2015 in Hannover gespürt – und es wurde über die Jahre stärker. Ich bin der Meinung, dass die Ereignisse in der Ukraine als Vorwand dienen, um die Russophobie wieder stärker auszubauen. Das ist im Rest der Welt, wo ich auf Dienstreisen hinkomme, ganz anders. Wenn ich sage, ich komme aus Russland, ist fast überall die Reaktion: „Putin ist der beste Präsident der Welt, den hätten wir auch gerne als Staatschef“.
Und das sehe ich auch so. Diesen Job, in diesem Riesenland – den möchte ich nicht machen. Und Präsident Putin zeigt nie ein Anzeichen von Müdigkeit, von Schwäche. Er ist immer informiert, immer Patriot, immer für sein Volk da.
Es ist schon so: Ich bin zwar kein politischer Flüchtling, aber ich bin abgehauen, weil ich frühzeitig erkannt habe, dass es mit Deutschland den Bach runter geht und Russland ein aufstrebendes Land ist. Der Unterschied hat sich in der sogenannten Corona-Krise ganz deutlich gezeigt. Ohne Russland hätte die „Klopapier-Krise“ in Deutschland wohl noch länger angehalten.
Wieso denn das?
Unsere Baustelle in Deutschland wurde damals eingestellt, alle Russen mussten nach Hause. Auch in Russland war es zu Beginn schwierig, Projekte zu machen. Ich stand mal wieder vor der Frage: Wie überlebe ich als Firma?
Dann kamen die deutschen Medienberichte über Klopapiermangel. Ich sprach mit einem guten Bekannten in Deutschland, der Kontakte zum Großhandel hat, darüber: „Ihr habt Klopapiermangel – ich schicke euch welches“. Er hat mir Telefonnummern gegeben, ich habe rumtelefoniert. Natürlich mussten wir erst mal nachweisen, dass wir auch in gewünschter Qualität liefern können. Manch‘ einer denkt ja, wir wischen uns den Hintern immer noch mit der Prawda ab. Also habe ich eine Probelieferung organisiert – und dann insgesamt 126 LKWs nach Deutschland geliefert. Das war über eine Millionen Euro Umsatz.
Die Russen wollten das mit dem Klopapier gar nicht glauben. Ich musste ihnen das per Internet erst beweisen, dass die Regale mit Klopapier in Deutschland leer sind. Ein Kumpel aus Frankreich, der vom Klopapier-Deal gehört hatte, rief mich auch an. Dort fehlten Wein und Präservative. Aber Wein aus Russland konnte ich nicht in der gewünschten Qualität beschaffen und Präservative wollte ich nicht anbieten.
Und wie lief das mit der Bürokratie?
Das war typisch deutsch. Die Händler forderten Just-in-time-Lieferung – minutengenau. Ist der LKW nicht pünktlich vor Ort, gibt es eine Strafe. Unsere LKWs mussten durch drei Länder durch – da gibt es keine Garantien. Man weiß ja nie, wie lange es an den Grenzen dauert. Da wurde aber dann durch die Beschaffung „großzügig“ eine Ausnahme gemacht.
Selbst in der Notsituation muss in Deutschland eben alles nach Prozessen laufen. In Russland ist das – Gottseidank – ganz anders. Hier wird gehandelt und improvisiert. Darum floriert die russische Wirtschaft jetzt in der Krise durch die Sanktionen ganz besonders.
Beneidenswert. Ich wünsche Dir weiter alles Gute in Russland. Ich hoffe, dass es im Westen nach dieser Krise auch wieder aufwärts geht. Aber dazu müssen die Menschen wohl erst wieder ganz unten ankommen, damit sie lernen, die Ärmel aufzukrempeln und zuzupacken.
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Holla, das Ersatz Klopapier kam von einem ehemaligen DDR-ler aus Russland.
Das kam nicht in der Tagesschau ;)