Ist das Völkerrecht tot, oder liegt es nur im Koma?

26. Dezember 2025von 9,8 Minuten Lesezeit

Die Frage, die sich stellt, ist, ob nur noch jemand den Stecker ziehen muss, damit das Völkerrecht stirbt, weil es im Koma liegt, oder ob es bereits für tot erklärt werden kann. Und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.

Das Völkerrecht scheint nur für schwächere Staaten zu gelten, während mächtige Nationen es ignorieren können, ohne Konsequenzen. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass es „tot“ sein könnte. Aber vielleicht lebt es noch, liegt nur im Koma? tkp versucht der Sache auf den Grund zu gehen.

Macht oder Recht

Das Völkerrecht (internationales Recht) basiert grundsätzlich auf der Zustimmung der von ihm betroffenen Staaten – es gibt keine globale „Polizei“ oder ein allmächtiges Gericht, das es durchsetzt. Institutionen wie der Internationale Gerichtshof (IGH) oder der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) sind abhängig von der Kooperation der Länder die betroffen sind, aber auch der Länder, die das Gericht unterstützen. Die Gerichte haben nur das geschriebene Wort als Macht, sonst nichts. Kritiker argumentieren, dass es in einer Welt mit starken Machtungleichgewichten noch nie wirklich „gleich“ war: Mächtige Staaten wie die USA, Russland oder China formen das Recht oft nach ihren Interessen oder umgehen es einfach. Wenn ein Land militärisch oder wirtschaftlich dominant ist, kann es Sanktionen, Invasionen oder andere Verletzungen durchsetzen, ohne dass der Rest der Welt effektiv eingreift. Das erinnert an das Konzept der „Hegemonie“, bei dem Recht nicht universell ist, sondern den Starken dient, um die Schwachen zu kontrollieren.

Beispiele

Die Sanktionen von Donald Trump gegen den Internationalen Strafgerichtshof (ISGH) wegen Untersuchungen zu US- und israelischen Handlungen in Afghanistan oder Palästina werden als Angriff auf die Unabhängigkeit des Rechts gesehen. Ohne etwas am de facto Status zu verändern, oder Sanktionen anderer Länder gegen diese Sanktionen hervorzurufen. Ähnlich die jüngsten Schiffsbeschlagnahmen vor Venezuela: Die USA rechtfertigen sie mit unilateralen Sanktionen, was von Kritikern als „Piraterie“ bezeichnet wird, da es ohne UN-Mandat geschieht. Niemand aber wagt es, sich „dem Schläger auf dem Schulhof“ in den Weg zu stellen.

Trotz eines IGH-Urteils von 2016 ignoriert China Ansprüche anderer Staaten und baut Militärbasen – ohne nennenswerte internationale Durchsetzung des Urteil.

Der Fall von Russland und seinem Einmarsch in die Ukraine, auch wenn er oft im Zusammenhang mit dem Tod des Völkerrechts erwähnt wird, ist noch nicht endgültig völkerrechtlich entschieden, außer man sieht es aus der Sicht westlicher Rechtseinschätzung. Zwar haben westlich dominierte Organisationen den Einmarsch verurteilt, aber Moskau beruft sich auf das Kosovo-Urteil des Gerichtes, welches vereinfacht erklärte, dass sich ein Gebiet unabhängig erklären kann, auch ohne Zustimmung der Zentralregierung. Weshalb Russland die ukrainischen Gebiete als unabhängig anerkannte und dann im Rahmen von behaupteter Nothilfe unter Berufung auf Artikel 51 der UN-Charta diesen Gebieten militärisch zur Hilfe eilte. Vorwürfe der Ukraine, Russland beging Terrorismus wurde vom IGH abgelehnt, andere Verfahren stehen noch aus. Westliche Rechtsexperten erklären den Vergleich mit Kosovo für ungültig, da im Fall von Kosovo keine „Invasion“ erfolgt sei. Aber während es im Kosovo kein Referendum gab, also der Wille der Bevölkerung alleine durch eine Elite deklariert und anerkannt wurde, hatten in der Ukraine Referenden stattgefunden, und war auf Grund der Geschichte deutlich gewesen, dass die Bevölkerung mehrheitlich nicht mehr einem Staat angehören wollten, welche die Gebiete acht Jahr lang bombardiert hatte. In der Folge wurden auch die anderen Erklärungen Russlands durch westliche Experten geleugnet, die Unabhängigkeit als „Scheinmanöver“ abgelehnt.

Ein weiteres prominentes Beispiel für die Spannung zwischen Macht und Recht im Völkerrecht ist der Israel-Palästina-Konflikt, insbesondere die langjährige Besatzung der palästinensischen Gebiete (einschließlich Westjordanland, Ost-Jerusalem und Gazastreifen). Hier zeigen sich die Grenzen des Völkerrechts deutlich: Trotz klarer Urteile und Resolutionen, die die israelische Politik als illegal einstufen, bleibt die Durchsetzung aus, oft aufgrund von Vetomächten im UN-Sicherheitsrat (z. B. den USA) und militärischer Überlegenheit.

Der IGH stellte fest, dass Israels anhaltende Präsenz in den besetzten Gebieten (Occupied Palestinian Territory, oPt) unrechtmäßig ist und gegen internationales Recht verstößt, einschließlich des Verbots der Aneignung von Territorium durch Gewalt (Art. 2 Abs. 4 UN-Charta) und des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser. Israel muss sich dem Urteil zufolge vollständig zurückziehen, Siedlungen abbauen, die Mauer im Westjordanland (aus dem 2004er Gutachten) demontieren und Reparationen leisten.

Alle Staaten sind eigentlich verpflichtet, die Situation der Besatzung als illegal anzuerkennen, und dürfen keine Unterstützung leisten (z. B. durch Handel mit Siedlungen) sondern sind laut Urteil gehalten, Druck auf Israel auszuüben, um die Besatzung zu beenden.

Es ist das eindeutigste Urteil eines Weltgerichts in Sachen Völkerrecht, das auch durch einen Beschluss der UN-Generalversammlung bestätigt wurde, wird aber nicht nur von den Beschuldigten, sondern auch dem größeren Teil der Welt missachtet, der immer noch fleißig Handel mit dem Täter betreibt. Die Entschuldigung lautet, dass es ja kein Sicherheitsratsmandat gebe (weil die alten Kolonialmächte eine Entscheidung blockieren). Wobei selbst über 30 Sicherheitsrats-Resolutionen von Israel missachtet werden.

Es gibt speziell in den letzten Jahren noch zahlreiche Beispiele, vom Völkermord in Gaza bis zum Angriffskrieg gegen den Iran durch Israel und die USA. Alles gröbste Verstöße gegen das Völkerrecht, ohne aber dass es für die Täter zu irgendwelchen Folgen führen würde.

Bedeutet das nicht, dass es tot ist?

Im Westen wird das Völkerrecht immer noch gerne als lebend dargestellt, weil es nützlich ist. Niemand will die Geräte abstellen, die es am Leben erhalten. In Handel (WTO), Umweltschutz (Pariser Klimaabkommen) oder Seerecht (UNCLOS) halten sich die meisten Länder daran, weil und solange es ihnen nutzt.

Organisationen wie die UN oder NGOs drängen auf Veränderungen. Mächtige Staaten halten sich manchmal daran, um Legitimität zu wahren, und um es andererseits als Waffe gegen Gegner einsetzen zu können. Die Medien halten den Ball flach und wagen sich nicht wirklich das Thema groß zu machen, weshalb ein Bericht aus 2025 („Not Dead Yet„) durch Umfragen in neun Ländern zeigt, dass die Öffentlichkeit internationalem Recht noch vertraut, trotz Krisen, weil den meisten Menschen die Situation gar nicht bewusst ist.

Selbst kritische Geister im Westen meinen, ja, wenn Völkerrecht nur selektiv angewendet wird, verliert es an Glaubwürdigkeit und wirkt wie ein Werkzeug der Mächtigen – das macht es in den Augen „tot“. Aber sie meinen, es sei eher im Koma: Es überlebe durch Alltagsanwendungen und den Druck der Zivilgesellschaft. Um es zu retten, bräuchte es stärkere Durchsetzungsmechanismen, z. B. Reformen im UN-Sicherheitsrat. Mit anderen Worten, ein Wundermittel.

Die Meinung im größeren Teil der Welt

Die Meinung im größeren Teil der Welt ist, dass die Kolonialzeit erst überwunden sein wird, wenn es ein Völkerrecht gibt, welches alle Nationen gleichmäßig verpflichtet. Ohne Veto-Rechte für die „Ur-Atommächte“, ohne wirtschaftliche Erpressung durch große Wirtschaftsblöcke. Aber noch nicht einmal relativ vorsichtige Reformen haben derzeit eine Chance.

Die „French-Mexican“ Initiative fordert einen freiwilligen und kollektiven Verzicht der ursprünglichen Atomstaaten auf das Veto, mindestens in Fällen von Massenverbrechen. Sie zielt auf eine Reform des Völkerrechts ab, indem sie die UN-Charta ergänzen will, ohne sie zu ändern, und betont die Verantwortung der Großmächte, humanitäre Krisen nicht zu blockieren. Bis 2025 haben über 100 Staaten diese Initiative unterstützt, darunter viele aus dem Globalen Süden. Trotzdem wird ihr keine ernsthafte Erfolgsaussicht bescheinigt.

Die ACT-Gruppe, eine Koalition von über 120 Staaten (initiiert von Liechtenstein und unterstützt von Ländern wie der Schweiz, Costa Rica und Jordanien), fordert einen „Code of Conduct“ für den UN-Sicherheitsrat. Dieser Code sieht vor, dass die 5 Veto-Staaten in Fällen von Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf das Veto verzichten. Die Bewegung kritisiert, dass das Veto das Völkerrecht untergräbt, indem es Mächte über das Recht stellt, und plädiert für eine breitere Reform des internationalen Systems. Aber selbst diese Minimalforderung scheitert.

Die Folgen

Da sich offensichtlich die mächtigen alten Länder dieser Welt nichts von ihrer Macht nehmen lassen wollen, droht nun wohl der harte Weg. Ähnliches hatten wir vor und nach den großen Weltkriegen erlebt. Nach dem 1. Weltkrieg kam der Völkerbund, nach dem 2. Weltkrieg die UN. Große Kriege gestalten die Machtverhältnisse um, was wiederum das Völkerrecht neu definieren lässt. Und so wird leider erst wieder eine große Katastrophe zu einer erneuten „nie wieder“ Euphorie und Neudefinition von Völkerrecht führen.

Natürlich gibt es auch Optimisten, welche erklären, dass es doch auch friedliche Beilegungen von Krisen gab, wie die Kuba-Krise 1962 und die Suez-Krise 1956, was das Völkerrecht gestärkt habe. Sie sagen auch der Post-Kalter-Krieg-Frieden (seit 1989) brachte Fortschritte wie das Verbot chemischer Waffen (1993) oder den Internationalen Strafgerichtshof (1998), ohne globale Katastrophe. Sie glauben, dass Reformen noch eine Chance haben.

Aber sie übersehen die Tatsache, dass die Bevölkerung der Welt noch nie besser über globale Krisen informiert war wie derzeit. Und dass die mediale Übermacht westlicher Sichtweisen erodieren, wodurch heute der Druck auf Regierungen immer größer wird, Unrecht, das durch blanke Macht demonstriert wird, nicht mehr hinzunehmen.

Kommentar

Im Moment ist keine große Macht, weder China, noch Indien, die USA oder Russland, daran interessiert, den Status-Quo zu ändern. Ganz zu schweigen von den irrelevant werdenden europäischen ehemaligen Imperien. Aber die USA überstrapazieren die Geduld der Völker. Und während die europäischen ehemaligen Großmächte kaum noch eine Rolle spielen, tauchen die Türkei und der Iran auf, welche die Bevormundung und Unterdrückung durch westliche Arroganz zu lange herunterschlucken mussten. Mächte wie Pakistan, Ägypten, und afrikanische Länder leiden schon so lange, aber ihre Regierungen sind permanent gefährdet durch RegimeChange und Sanktionen. Israel befindet sich im permanenten Krieg mit seinen Nachbarn, die es weitgehend stillschweigend erleiden. All dies ist eine äußerst brisante Mischung.

Alles zusammen genommen muss man feststellen, dass friedliche Veränderungen nur möglich sein werden, wenn sich BRICS weiterentwickelt und wirtschaftlichen Druck auf die „goldene Milliarde“ des Westens ausübt. Aber das könnte noch 10 Jahre dauern. D.h. wenn wir die nächsten zehn Jahre ohne Ausbruch eines großen Krieges überstehen, könnten wir Veränderungen sehen.

Alles hängt davon ab, ob die USA bereit sind, weiter und noch stärker das Völkerrecht zu ignorieren, z.B. durch einen erneuten Angriffskrieg gegen den Iran, oder durch noch stärkere Provokationen oder sogar Bombardierungen von Venezuela. Machen die USA so weiter, werden sie plötzlich eine Rote Linie zu viel übertreten haben. Und das was durch den Ukraine-Konflikt entstand wird im größeren Maßstab entstehen. Mit am Ende katastrophalen Folgen für die Welt, aber einer Neuordnung, welche einen völkerrechtlichen Neustart ermöglichen wird.

Wo Deutschland und die europäischen Mächte eine Rolle spielen? Nun, sie werden keinen wirklichen Weltenbrand mehr auslösen können. Das werden einerseits die Bevölkerungen nicht mehr mitmachen, und würden andererseits die potentiellen Gegner schnell zu beenden wissen. Was aber erst möglich wurde durch die MAGA-Bewegung in den USA. Diese beutet zwar die europäischen Vasallen aus, wird sich aber nicht mehr in einen Weltenbrand hineinziehen lassen, was zu einem schnellen Ende eines Krieges führen würde.

Bild: Ein mächtiger Krieger tritt auf das Völkerrecht, während die Bauern davor im Staub liegen.

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