Was passiert nach dem Absterben des Pazifismus?

8. März 2025von 17,3 Minuten Lesezeit

Seit Jahren, uns insbesondere seit der letzten Wahl muss man feststellen, dass Antimilitarismus oder Pazifismus, oder die Friedensbewegung keine Rolle mehr spielen. ALLE Parteien, die in den Bundestag kamen wollen aufrüsten, statt abrüsten, auch jene, welche behaupten, sie wollten keinen Krieg gegen Russland führen.

Wenn wir also in einer Zeit leben, welche behauptet „Krieg bedeutet Frieden“, und sich dagegen kaum noch Widerstand erhebt, muss man sich fragen, was denn nun wohl als nächstes passieren wird. Und nein, es geht nicht unbedingt um einen großen Krieg gegen Russland. Aber schauen wir uns das Konzept des Pazifismus genauer an.

Pazifismus ist viel mehr als „Gewaltlosigkeit“. Pazifismus hat viele Definitionen und Wikipedia hat eine ausführliche Beschreibung der Geschichte dessen, was sich Pazifismus nannte. In der Neuzeit war Pazifismus zuletzt vorwiegend eine Waffe, mit der ein deutlich Schwächerer ein politisches Ziel gegen einen deutlich stärkeren Herrscher durchsetzen wollte. Dass dies aber schon immer mit Gewalt auch der angeblich „Gewaltlosen“ verbunden war, und auch zu noch mehr Gewalt und Leid führen konnte, ist nur wenigen bewusst.

Holen wir etwas aus. Gabriel Vahanian stellte in seinem Buch von 1961 „The Death of God“ fest, dass Gott tot sein muss, weil die moderne säkulare Kultur jeden Sinn für das Sakrale verlor und kein transzendentes Ziel mehr kennt. Nun ist diese These besonders angesichts der wachsenden Bedeutung der Religion in moslemisch geprägten Ländern unter Kritik geraten. Andererseits erhält sie Nahrung durch die Feststellung eines einsetzenden Wertenihilismus, durch einen Zerfall von Rechtstaatlichkeit, einschließlich Völkerrecht, wie besonders gut in Gaza zu beobachten, aber auch einen Verfall des Begriffs Demokratie. Was durch das Ungültigerklären von Wahlen deutlich wird, wenn das Ergebnis dem herrschenden Glauben an das Gute Widerspricht. Zuletzt gesehen in Rumänien. Und in der Ukraine-Krise wurde aus der Hoffnung „Frieden“ ein Schimpfwort, das angeblich „totale Unterwerfung“ bedeute.

Dass Pazifismus heute seine Wirkung auf die Gesellschaft verloren hat, ist nicht wegen des Verlustes des Sakralen und Transzendenten, sondern weil diejenigen, gegen die sich Pazifismus richtet, die herrschenden Strukturen des Establishments, jede Moral und Ethik aufgegeben haben, ohne die Pazifismus, interpretiert als Gewaltlosigkeit, aber nicht funktioniert.

Dabei wird davon ausgegangen, dass die Wirkung des Pazifismus daraus besteht, die Gewalt des Stärkeren so deutlich werden zu lassen, dass dieser und die Welt um ihn herum zur Einsicht kommen, dass die Gewalt unmoralisch, unethisch wäre. Die Reaktionen der westlichen Welt auf die Vorgänge in Palästina zeigen dies unbestreitbar deutlich auf.

Waren diese Herrscher während der großen Konfrontation der Mächte im Westen und Osten noch in einem Wettbewerb der Systeme, in denen die Moral und Ethik als Waffe eingesetzt wurde, benötigte man nach der Aufgabe der Ideen des Kommunismus im Osten diese Waffe nicht mehr. Aber der Pazifismus, wenn er denn als Gewaltlosigkeit definiert wird, benötigt einen Rest von Moral und Ethik, damit er überhaupt wirken kann.

Gandhis Gewaltlosigkeit

Bei Wikipedia findet man folgende Beschreibung Gandhis:

Gandhi … war ein indischer Rechtsanwalt, Widerstandskämpfer, Revolutionär, Publizist, Morallehrer, Asket und Pazifist. […] Schon zu Lebzeiten war Gandhi weltberühmt, für viele ein Vorbild und so anerkannt, dass er mehrmals für den Friedensnobelpreis nominiert wurde. In seinem Todesjahr wurde dieser Nobelpreis symbolisch nicht vergeben. Ebenso wie Nelson Mandela, Aung San Suu Kyi oder Martin Luther King gilt er als herausragender Vertreter im Freiheitskampf gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit.“

Gandhi soll also gegen Unterdrückung und für soziale Gerechtigkeit gekämpft haben. Hier findet man keine Einschränkung, dass er dies nur für Inder aktiv betrieb. Dazu bemerkt der Sozialwissenschaftler Rainer Roth in seinem Buch Sklaverei als Menschenrecht:

Gandhi sah die Beteiligung indischer Truppen im Rahmen der britischen Armee als entscheidende Voraussetzung dafür an, dass Indien im Rahmen des Britischen Empire gleiche Rechte auf Selbstregierung zugestanden wurden wie Australien und Kanada. In der Indian Army kämpften unter dem Kommando britischer Offiziere rund eine Million Soldaten. Rund 140 000 kämpften bis Ende 1915 in Frankreich und Belgien, 675 000 standen im Mittleren Osten, 144 000 in Ägypten, weitere in Ostafrika usw. […] Im Herbst 1914 stellten Inder ein Drittel der britischen Streitkräfte in Indien. ‚Es kann keine Freundschaft zwischen dem Mutigen und dem Verweichlichten geben‘, erklärte Gandhi. ‚Wir werden als ein Volk der Ängstlichen betrachtet. Wenn wir uns von diesem Verdacht befreien wollen, müssen wir lernen, die Waffen zu gebrauchen.‘ […] Nur auf diese Weise werde sich das ‚große Britische Empire‘ davon überzeugen lassen, die Diskriminierungen aufzuheben, die auf den Indern lasteten, erklärte Gandhi. Es gehe darum, den Status der white dominions (wie Australien, Kanada usw.) zu erlangen und die Selbstregierung zu erhalten, die diese haben. […] Bis zu 70 000 indische Soldaten fielen im Weltgemetzel für die imperialistischen Interessen der Weltmacht Großbritannien. […]

Auch dank der Gandhi’schen Predigt waren diese Soldaten keine widerwilligen Rekruten, sondern Freiwillige, ja sogar begeisterte Freiwillige. […] Sie dachten, sie kämpften für die Selbstregierung Indiens. Die Kolonialbehörden schafften es dank ihrer Zusammenarbeit mit Gandhi und anderen Vertretern der indischen Nation, dass es nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Indien keine Unruhen und keine Angriffe auf die britische Armee gab. Diese Ruhe war auch im Sinne Gandhis. Die indische Bourgeoisie wollte sich selbst regieren, aber den englischen König als Staatsoberhaupt anerkennen.“ (1)

Hier lesen wir also, dass es nicht um „Unterdrückte“ ging, die unterstützt werden sollten, sondern darum, dass die indische Bourgeoisie von der britischen als gleichberechtigt anerkannt wurde.

Fast verzweifelt versucht Wikipedia, nicht am Pazifismus Gandhis zu rütteln, kann aber nicht umhin, wenigstens die Beteiligung am Krieg gegen die Zulus zu erwähnen:

Er rückte mit nur 24 Mann an und half Verwundeten beider Seiten. ­Gandhi war von der Gewalt der militärisch weit überlegenen Briten bestürzt, die den Aufstand im Juli 1906 brutal niederschlugen und die Überlebenden sowie sympathisierende Zulu inhaftierten oder deportierten. […] und warf sich seit dem grausam niedergemetzelten Zulu-Aufstand häufig vor, Gewalttaten anderer nicht verhindern zu können.“

Laut Wikipedia war Gandhi von der Gewalt der Briten also bestürzt. Roth und die von ihm zitierten Autoren sehen die Person Gandhi und seine Taten in diesem Zusammenhang in einem ganz anderen Licht:

Gandhi unterstützte das rassistische British Empire in dessen Kriegen gegen die Buren (1899–1902) und gegen die Zulus in Natal (1906). Er diente im Burenkrieg (1899–1902) in einer indischen Sanitätseinheit. Er unterstützte die Unterdrücker seines eigenen Volkes, indem er sich an der Unterdrückung anderer Völker beteiligte. Um den Widerstand der Buren niederzuschlagen, richteten die Briten erstmals Konzentrationslager ein, in denen sie bevorzugt Frauen und Kinder internierten. Viele von ihnen starben. […]

Nachdem eine Kopfsteuer erhoben worden war, töteten Zulus 1906 in Natal zwei Polizisten. Die schwachen bewaffneten Kräfte der Zulus wurden mit Maschinengewehren niedergemäht. Viele Zulus wurden ausgepeitscht bzw. öffentlich erhängt. Gandhi kannte keine Gnade gegenüber den Zulus, auch wenn er keinen nennenswerten Widerstand von ihnen wahrnehmen konnte und erst recht keinen Aufstand. Er stand bedingungslos auf der Seite des britischen Empire. ‚Doch ich glaubte damals, das britische Empire bestehe zum Besten der Welt. […] Ich hatte das Gefühl … der Regierung von Natal meine Dienste anbieten zu müssen‘, schrieb er. […] Die Regierung Natals zeichnete sich durch besonders rassistische Gesetze zur Vertreibung von Indern aus. Gandhi wurde im Rahmen eines indischen Ambulanzkorps der britischen Armee zum Feldwebel ernannt. Er wollte damals auch bewaffnete indische Militäreinheiten zur Unterdrückung der Zulus aufstellen, aber die britische Militärbehörde lehnte ab.“ (2)

Demnach wollte Gandhi sogar bewaffnete indische Militäreinheiten dem britischen Empire zur Verfügung stellen, um damit noch besser Zulus zu unterdrücken. Eine Tatsache, die weitgehend, zum Beispiel auch in Wikipedia, verschwiegen wird.

Roth ist nicht der Einzige, der erklärt, dass Gandhi ein Rassist war, der am indischen Kastensystem festhalten und es nicht, wie immer wieder behauptet wurde, beseitigen wollte. In einem Interview mit der Zeit sagte die indische Schriftstellerin Arundhati Roy:

Gandhi hat darauf bestanden, alle Kasten sollten bei ihrer erblichen Arbeit bleiben, aber keine Kaste solle für nobler gelten als eine andere – damit wollte er die Menschen dazu bringen, sich über ihre Erniedrigung sogar noch zu freuen.“

Es ging also keineswegs um das Auflösen des indischen Kastensystems, sondern vielmehr um das Anpassen an die Bedingungen der Zeit, um sicherzustellen, dass billige Arbeitskräfte auch weiterhin zur Verfügung standen, mit denen der Mittelstand seinen Wohlstand mehren konnte. Nur deshalb hat Gandhi das Thema Unberührbarkeit bekämpft. Es passte nicht mehr in die moderne Organisation der Gesellschaft. Aber die Frage ‚von Rechten – auf Land, Bildung, öffentliche Dienstleistungen‘ ist die wirkliche Problematik der Kasten in Indien.

Auch die Behauptung, Gandhi wäre ein Vertreter der Gewaltlosigkeit gewesen, ein absoluter Pazifist, ist ein längst widerlegtes Narrativ, wie es schon weiter oben über seine Zeit in Südafrika anklang. Wolfgang Dietrich schreibt über einen Autor der Ganhi kritisierte:

Gandhis Zugang zum Thema Gewaltlosigkeit lehnt er noch entschiedener ab als Krishnamurti … weil er ihn für Gewaltunterdrückung im asketischen Stil indischer Tradition hält. […] Der Asket aber wendet die Gewalt gegen sich selbst – und das wirft er Gandhis asketischen Inszenierungen vor. Er geht so weit, Gandhi als für den Ausbruch der kollektiven Gewalt im Zuge der indischen Unabhängigkeit ursächlich zu sehen, weil dieser zuvor die Unterdrückung der Gewalt gepredigt habe. So habe Gandhi und mit ihm ganz Indien die Gewalt des Aggressors in sich aufgeladen, ohne sie zu transformieren. Oshos gänzlich energetisches Verständnis vom Sein schließt daraus, dass die im langen Freiheitskampf unterdrückte Energie sich letztlich in einer Orgie physischer Gewalt entladen musste. Ein Befund, in dem ihm so mancher westliche Psychoanalytiker folgen könnte, auch wenn das politisch inkorrekt ist.“ (3)

Peter Conzen stellt in seinem Buch über die Grundpositionen von Erik H. Erikson, und dessen Meinung zu Gandhi fest:

Gerade in Gandhis moralischem Rigorismus zeige sich viel an unterdrückter Gewalt gegen sich selber und andere. Ein verkappter Sadismus spreche beispielsweise aus Äußerungen, in denen Abscheu gegen Sinnlich-Triebhaftes sich mit Vorwürfen gegen Frau und Kinder koppelt. Schonungsloser als andere Biographen rechnet Erikson mit Gandhis Frauenbild ab, vor allem der bisweilen herabsetzenden Behandlung von Kasturba.“ (Quelle)

Gandhis Aufruf zur Gewaltlosigkeit war im Prinzip ein Aufruf zur Gewalt gegen sich selbst. Gandhi hat so seine Anhänger aufgefordert, durch Gewaltlosigkeit gegenüber dem Feind sich selbst Gewalt anzutun oder antun zu lassen. Was nicht nur zu späteren Explosionen der Gewalt führte, sondern auch zu vielen Opfern der Gewalt, gegen die man nicht vorging.

Widersprüchlich ist Gandhi auch wegen seiner Rezeption. Eine Linie führt in Richtung Bürgerrechtsbewegung und insbesondere Martin Luther King (MLK), damit verbunden dann in gewisser Weise auch der palästinensische Widerstand. Die andere in Richtung Dalai Lama und Farbrevolutionen. Der Unterschied besteht m.E. darin, dass im zweiten Fall der manipulative Charakter von Gandhis Methode der „Gewaltlosigkeit“ im Zentrum steht, von sozioökonomischen und geopolitischen Zusammenhängen losgelöst wird und sich hervorragend vereinbaren lässt mit einer Politik (im Dienste) des Westens, die von kodifiziertem Recht und rechtsstaatlichem Handeln nichts mehr wissen will, die Moral von diesem Recht isoliert und sie zur „Opfermoral“ entwertet („unterdrückte Frauen im Iran“, „unterdrückte Schwule in Russland“, „unterdrückte Muslime in China“, „friedliche Demonstranten in Venezuela“ usw.), die wiederum auf einem geschickten Emotionsmanagement beruht – demgegenüber im ersten Fall immer noch die Beseitigung von real bestehender Diskriminierung im Vordergrund steht.“ (4)

Sowohl bei MLK als auch bei Nelson Mandela erkennt man schon, dass der Pazifismus an seine Grenzen stößt, obwohl immer noch der Wettbewerb der Systeme zu einer gewissen Zurückhaltung der Herrschenden führte. War der bewaffnete Aufstand gegen das Apartheid-Südafrika oder der Freiheitskampf der Vietnamesen ohne Waffen möglich gewesen?

Maidan vs Gaza

Der Putsch von 2014 in der Ukraine ist ein Beispiel, wie „Pazifismus“ heute eingesetzt wird. Zunächst waren die Demonstrationen gewaltlos aber auch wirkungslos. Dann wurden bewusst Gewalttaten provoziert, dem verhassten System sogar durch False-Flag-Misshandlungen noch mehr Gewalt zugeordnet als sowieso bereits vorhanden, die Spirale der Gewalt gegen die Demonstranten bewusst eskaliert. Aber als der Herrscher immer noch nicht zu der entscheidenden Gewaltanwendung, die zu seiner moralischen Diskreditierung dienen konnte griff, entschloss man sich zu den Schüssen und damit Massenmorden auf dem Maidan, mit dem sowohl Demonstranten, als auch Polizisten getötet wurden. Mit diesem False-Flag Ereignis war erreicht worden, dass die „friedlichen Demonstranten“ sich zur Gewaltanwendung legitimiert fühlten, und von einer Mehrheit in der Umgebung dabei unterstützt wurden. Katchanovski hat es brillant analysiert.

Aus der Gewalt „gegen sich selbst“ wurde dann in der Folge der blutige Bürgerkrieg gegen den Osten des Landes, der sich dem Putsch nicht unterwerfen wollte. Auch hier sahen wir zunächst Menschen, die versuchten sich mit bloßen Händen gegen Panzer zu wehren. Aber auf der Woge der Maidan-Morde als Legitimation gab es nun kein Halten mehr, und die gleichen Kräfte, die als „Pazifisten“ die Spirale der Gewalt in Kiew bewusst zur Explosion brachten, waren nun enthemmt und selbst im Gefühl der Macht ohne jede „Gewaltlosigkeit“ dabei, den Krieg zu beginnen. Schließlich hatte sich ja gezeigt, dass „Gewaltlosigkeit“ erst wirksam geworden war, nachdem sie in Gewalt umgeschlagen war.

Medien und westliche Politik hatten zunächst die „friedlichen Demonstranten“ unterstützt, als diese an der Macht waren, aber deren Krieg gegen die Demonstranten im Osten. So hatten zunächst die Unterdrückten Milliarden Dollar, Medien, Politik hinter sich, und als sie den Herrscher gestürzt hatten, sofort die Legitimation „der freien Welt“, einen Bürgerkrieg zu beginnen.

Ende März 2018 begannen die Demonstrationen „Der Große Marsch der Rückkehrer“ an der Grenze zwischen Gaza und Israel. Palästinenser forderten ihr Rückkehrrecht, das von der UNO ausdrücklich bestätigt worden war, und die Aufhebung der Belagerung des Gaza-Streifens. Hunderte sollten im Laufe der nächsten Monate während der Demonstrationen ihr Leben lassen, tausende durch Scharfschützen Israels verwundet werden, viele ihre Gliedmaßen verlieren.

Jason Cone, der Exekutivdirektor von Ärzte ohne Grenzen (USA) erklärte am 11. Mai welche Verwundungen die Munition der israelischen Scharfschützen bei unbewaffneten palästinensischen Demonstranten, die an der Grenze für ihr von der UNO bestätigtes Rückkehrrecht demonstriert hatten, verursachten.

Die Austrittswunde des Geschosses hat die Größe einer Faust. Der Knochen wurde pulverisiert. Das ist die Realität für die Hälfte der verletzten Patienten, die in den Kliniken meiner Organisation seit Beginn des Großen Marsches in Gaza behandelt wurden.“ (Quelle)

Bis zum Dezember 2018 waren tausende verwundet worden, die dauerhaft behindert bleiben werden. Ende Dezember wurde in der Zeitung Haaretz festgestellt, dass seit dem Beginn der Proteste im März, ungefähr 240 Palästinenser getötet worden waren. Und bezüglich der Erklärung Israels, dass die Schüsse in Selbstverteidigung abgegeben worden wären, las man: „Der gemeinsame Operationsraum der Widerstandsfraktionen erklärte, dass die vier Getöteten in einer Distanz von 300 bis 600 Meter entfernt vom Zaun waren, und die Verwundeten 150 bis 300 Meter vor dem Zaun.“

Wenn man die Geschichten der Getöteten und Verwundeten ansieht, erkennt man den Versuch des gleichen Systems, das Gandhi anwandte. Obwohl sie bereits verwundet worden waren, eilten sie zurück in die Nähe des Zauns um mit der gegen sie wirkenden Gewalt der Welt deutlich zu machen, was in Gaza passierte. Ein Demonstrant, der bereits beide Beine verloren hatte, begab sich mit dem Rollstuhl in die Schusslinie, in dem Bewusstsein, dabei sterben zu können, was dann auch passierte. Ihr Leben war das einzige Gewaltmittel, das sie hatten, im Kampf gegen einen übermächtigen Herrscher.

So wie Journalisten berichteten hatte eine Mutter in Inden den britischen Soldaten ihr Baby als Märtyreropfer angeboten, als Zelebrierung der Gewaltlosigkeit, die sich aber hier gegen das eigene Kind, und erst indirekt durch Delegitimation, gegen den britischen Soldaten richtet, wird klar, dass auch „Pazifismus“ nicht gewaltlos ist. Und wenn die palästinensische Freiheitsbewegung Hamas in Gaza die Menschen zu Demonstrationen aufrufen, obwohl sie wissen müssen, dass sie ihr Leben in Gefahr bringen, ist das sehr ähnlich zu Gandhis Politik, seine Gefolgsleute aufzufordern, ihr Leben und ihre Gesundheit für das große Ganze zu opfern. Und die „Opfer“, die die Führer des Putsches in Kiew im Jahr 2014 von ihren Demonstranten verlangten, waren zwar von denen so wenig freiwillig erbracht worden, wie das Opfer des Neugeborenen in Indien. Aber es zeigt auf, in welche Richtung der so genannte Pazifismus heute geht.

Das Opfermanagement, das auf Gandhi zurückgeht, passt hervorragend zur Politik eines rechts- und wertenihilistisch gewordenen Westens. Aber nicht zu einer linken, antimilitaristischen Haltung, wie er von Führern der Arbeiterbewegung und der antikolonialen Befreiungskämpfe gefordert wurde.

Und jetzt erkennt man die Unterschiede der Gewaltanwendungen gegen Palästinenser an der Grenze im Vergleich zum Maidan. Diesmal schweigen die westlichen Medien weitgehend. Allenfalls verurteilen sie „Gewalt auf beiden Seiten“. Statt Milliarden für den Umsturz, werden humanitäre Hilfeleistungen, die sowieso kaum das Lebensnotwendige gewährleisten, gekürzt (Quelle). Statt Völkerrecht und Menschenrechte zu unterstützen, gilt nun das Recht des Stärkeren.

Der Pazifismus, die Provokation von Gewalt gegen sich selbst, um den übermächtigen Gegner zu schwächen, funktionierte 2019 nicht mehr, wenn er sich gegen den nihilistischen Westen richtete. Aber das zu erwartende Ergebnis wird das gleiche sein, das schon die angebliche Gewaltlosigkeit Gandhis in Indien provozierte: „…schließt daraus, dass die im langen Freiheitskampf unterdrückte Energie sich letztlich in einer Orgie physischer Gewalt entladen musste.“

Und nun passierte der 7. Oktober 2023. Kriegsverbrechen der Hamas wurden als Legitimation Israels betrachtet, Massaker und Zerstörungen in einem noch nie gesehenen Ausmaß zu verursachen. Und Israel tat, was man auf Grund der vorherigen Bombardierungen, Morde, Vertreibungen und vor allen Dingen ANKÜNDIGUNGEN führender Politiker erwarten musste: einen Völkermord. Und die westliche Welt schweigt.

Völkerrecht, Menschenrechte, Demokratie

Völkerrecht, Menschenrechte, Demokratie waren einmal unter dem Eindruck ungeheurer Kriege und Grausamkeiten eingeführt worden, um in der Zukunft den Menschen und Völkern Alternativen zur Gewalt zu geben, wenn sie sich einem mächtigeren Gegner konfrontiert sahen. Das funktionierte einigermaßen, so lange es den Wettstreit der Systeme, den kalten Krieg gab. Als der jedoch weggefallen war, und eine Macht sich als Herrscher des ganzen globalen Systems glaubte, verloren Völkerrecht, Menschenrecht und Demokratie ihre Funktion. Sie wurden zu Propagandawaffen ohne reale Bedeutung.

Wenn als Erkenntnis nun klar wird, dass Gewaltlosigkeit nichts bewirkt, entsteht eine Gemengelage der Gefühle die hinterfragt, warum sich die Massen an Regeln und Gewaltlosigkeit halten sollen, wenn die von den Herrschenden weder international noch national beachtet werden.

Wenn die Herrscher überall auf der Welt glauben, abgesichert durch eine sie stützende Medienpropaganda, Waffen und Unterdrückungswerkzeuge des 21. Jahrhunderts, „schlachterprobt“ in Palästina, keine Rücksicht mehr auf altmodische Werte wie Moral, Ethik, Völkerrecht und Menschenrechte nehmen zu müssen, wird es eines Tages zu einem Gewaltexzess kommen, der vielleicht sich selbst vernichtet, aber auch die Herrscher. Ein Vorbote dieser Entwicklung wird die Zunahme von Selbstmordattentaten sein. Sie sind die Erweiterung von Gandhis Lehre der Selbstaufopferung, nur unter der Annahme, dass sie nur noch sinnvoll ist, wenn man dadurch einen wesentlichen Schaden verursacht. Wenn das eigene Leben weniger wichtig wird als das Ziel, das Verhasste zu zerstören, ähnlich wie bei Gandhi, aber man nicht mehr an die Macht der Gewaltlosigkeit glaubt.

Ein Vorbote dieser Entwicklung sieht man in den zunehmenden, scheinbar irrsinnigen Messer- und Autoangriffen in Deutschland. Jemand zerstört seine eigene Existenz, aber nicht ohne Gewalt auszuüben. Die nächste Stufe ist die der Selbstmordattentate. Aber statt „Allahu Akbar“ könnten dann auch wieder die Rufe erschallen, die schon Caesars Tod oder den von Abraham Lincoln begleiteten: „Sic semper tyrannis“!

Referenzen

(1) Rainer Roth: Sklaverei als Menschenrecht, Argument Verlag, Hamburg 2015, S. 519–521.

(2) Rainer Roth: Sklaverei …, a. a. O., S. 523.

(3) Wolfgang Dietrich: Variationen über die vielen Frieden, Band 1: Deutungen, Springer VS, 2008, S. 343.

(4) Aus privater E-Mail eines Freundes mit dem das Thema diskutiert wurde.


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Jochen Mitschka ist Erster Vorsitzender des Vereins „Der Politikchronist e.V.“: https://www.politikchronist.org/

Er ist Herausgeber der TKP-Jahrbücher  „Chronologie einer Plandemie“  mit allen Artikeln von TKP, die in den Jahren von 2020 bis 2023 erschienen sind.


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4 Kommentare

  1. Jan 8. März 2025 um 21:34 Uhr - Antworten

    Militärische Gewalt ist immer die dümmste, da sie die eigenen Verluste nicht minimiert. Militär macht vor allem Sinn als Drohung.

    Ich will nicht sagen, dass andere Formen von Außenpolitik keine Gewalt wären, die Drohung mit einem Stopp überlebenswichtiger Ressourcen oder Produkte, Sanktionen, Bündnisse, Propaganda, Opfererzählungen, die betrügerische Lieferung toxischer Produkte. Innenpolitisch fällt darunter zB der Streik, Religion oder Verfassungsrechte. Mir scheint die Gewaltfrage aus dieser Sicht sekundär, da Zerstörung oder die Durchsetzung von Zielen auf viele Arten geschehen können. Die Gewaltfrage macht vor allem bei der persönlichen Auseinandersetzung mit dem „Dienst an der Waffe“ Sinn.

    Außerdem lässt sich die Gewaltfrage an den großen Bruder delegieren und das ist dann kein Pazifismus!

    Eine Demokratie sollte den volonté générale, den Nutzen fürs Land, im Auge haben und nicht einer knappen Minderheit Zwang antun oder sie opfern. Aus dieser Logik heraus ist jede militärische Auseinandersetzung zu minimieren, da natürlich jedes Risiko eine Minderheit trifft, die ihr Recht auf Unversehrtheit und Selbstbestimmung verliert. Dies zu verhindern erfordert Bürger, die diese Zusammenhänge erkennen können, also über ein Mindestmaß an Bildung verfügen müssen, und die auch über eine Handhabe gegenüber Übernahmen der Zentralgewalt verfügen.

    Krieg ist eine Möglichkeit, gerade das UK hat historisch so argumentiert, einer Bevölkerung, die in einen unstoppbaren, irrationalen Wahn getaumelt ist, Grenzen zu setzen. Da sind die deutschen Dumpfbacken gerade wieder ganz vorn, mit der Wahl von Frieden-genug-am-Friedhof-Taurus-Merz und einer zweiten Amtszeit von Lauterbach – wie auch immer man das begründet, als Massenpsychose oder Spritz- oder 5G-Effekt, alles Annahmen, die eigentlich die Unmöglichkeit von Demokratie implizieren, da der homo economicus offenbar zeitweise auf Tauchstation geht und rationale Überlegungen keine Rolle mehr spielen. Krieg wäre damit ein Mittel der Psychologie.

    Viele Europäer sind derzeit nicht in der Lage, außenpolitische Ziele auch nur zu benennen! Ziel müsste es sein, den Energiesektor langfristig zu stützen und zu sichern, was militärische Sicherungsmaßnahmen inkludiert, da Energie eine Grundlage von Produktion und Überleben in einer technischen Moderne darstellt. Eine Einbindung in Absatzmärkte ist ebenso notwendig. Dazu gibt es ein großes Arsenal außenpolitischer Mittel, von denen Krieg nur eines ist. Feminismus gehört übrigens nicht dazu.

    Man hat aktuell den Eindruck, als ob viele Regierungen jene abhängiger Kolonien seien und nicht die souveräner Länder. Das ist sehr klar eine Einschränkung demokratischer Selbstbestimmung und auch bereits Gewalt. Die EU hält in vielen Äußerungen einen großen Krieg als europäischen Einigungskrieg für notwendig, über die Verfassungswidrigkeit einer solchen Mitgliedschaft ist es müßig zu debattieren.

  2. Wolliku 8. März 2025 um 19:54 Uhr - Antworten

    Wenn es so etwas wie Pazifismus gibt, dann muss diesem die Erkenntnis zugrunde liegen, jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich und hat ein Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit. Aber das ist möglicherweise eine hohle Formel, weil natürlich jeder weis, die Gesellschaft muss auf Regeln bestehen, wenn sie funktionieren will. Der Verstoß gegen Gesetze beinhaltet bekanntlich auch – nicht unbedingt gewaltfrei – den Verlust von Frieden und Freiheit. Für mich neu sind hier die Vorwürfe gegen Gandhi, denn Schulbuchwissen ist oft eine Crux und unzureichend. Aber natürlich bewegen wir uns immer auch in den Tiefen und Untiefen des menschlichen Daseins und je älter man ist, desto unverstellter ist bekanntlich der Blick auf Gut und Böse. Pazifismus überfordert den Menschen, ist ideologisch wie die vegane Lebensweise, weil der Körper sowieso fortwährend tierische Verdauungsprozesse durchführt. Für mich ist Pazifismus nicht der Schlüssel im Mensch sein, sondern die Erkenntnis, daß ein Überleben der Menschheit nur durch koordiniertes Verhalten möglich ist. Koordiniertes Verhalten ist der Schlüssel, weil dahinter der Glücksbegriff steht. Die Interaktionen der Menschen führen entweder zu Frieden und Freiheit oder dem Gegenteil davon. Letzteres kann nicht mit dem Glück assoziiert werden, allenfalls wäre es eine perfide Scheinwelt. Das Überleben der Menschheit ist somit nicht unbedingt gewaltbefreit, aber einsichtig nach fairen Regeln und Gesetzen gestrickt. Dabei haben wir längst akzeptiert, dass häufig die völlig falschen Personen die Nobelpreise abräumen, nur weil Gründe gefunden wurden sie ins Licht zu zerren. Oft ist es aber besser und ehrlicher, den Pazifismus als hehre Idee ganz außen vor zu lassen.

  3. Pfeiffer C 8. März 2025 um 17:59 Uhr - Antworten

    Die herrschenden Strukturen des Establishments, haben jede Moral und Ethik aufgegeben.

    Eine schleichende Entwicklung – und ist das Endergebnis des jahrzehnte lang praktizierten neoliberalen Wahnwitzes. Und keine der europaweit politischen Parteien – weder die mit dem sozialdemokratischen Mascherl, noch die mit dem chrislichsozialen, oder scheißegal welche mit irgendeinem beliebigen Politwerbefuzzi-Namen – hat sich in einer stillen Minute nach einer wieder einmal verlorenen Wahl gefragt, warum das jeweilige Stammwählerklientel sich nach r-ä-ä-ä-ä-c-h-t-s bewegt.

    Vor dem Hintergrund einer gesellschaftspolitischen Zerstörung mit 10% (davon 1% Ultimativen) oligarchischen Multimilliardären, für die keinerlei Regeln / Gesetze / Vorschriften / Gebote ff gelten. Mit einem ungeheuren – nichtdemokratisch legitimierten – Einfluss auf das globale Weltgeschen. Immer Zulasten:

    Uns, 90% zunehmend in einer Abwärtsspirale auf Schussfahrt befindlichen Rest-90%. – Für die natürlich – zeitweise haarspalterisch – alle nur erdenklichen Regeln / Gesetze / Vorschriften / Gebote ff gelten. Heißt: Bei schon geringen Verstößen gnadenlos exekutive/juristische Folgen wirkmächtig werden.
    Die sogenannte 4. Gewalt ist bedeutungslos. Sie ist als einst handlungsbeeinflussendes Regulativ völlig verschwunden. (Nicht völlig, Plattformen wie tkp leisten hervorragende Arbeit).

    Dieses Desaster hat – namentlich in Europa – schon lange und besonders gegenwärtig ein völliges, sprich flächendeckendes Tohuwabohu hervorgerufen. Und die noch immer herrschenden Strukturen des – nicht mehr vorhandenen – Establishments scheinen als Ausweg die totale Zerstötung Europas anzustreben.

    Anders kann ich die Kriegsirren (inklusive die österreichischen Hirnis) nicht interpretieren.

    Der rothschildferngesteuerte französische Präsident Macron schwafelt zum Beispiel von der Existenz einer imaginären „existenziellen Bedrohung“ durch Russland.

    Aber kein Wort über Sicherheitsgarantien für Russland. Schließlich hat gerade das Fehlen solcher Garantien, die ständige Schaffung von Bedrohungen für Russland durch die dominanten transatlantischen Guten, vor allem durch die ungehemmte Erweiterung der NATO – entgegen den gemachten Versprechungen – und dem Wunsch, die Ukraine in einen antirussischen Brückenkopf zu verwandeln, zu der aktuellen Krise geführt.

    Man nuss immer wieder daran erinnern, dass die Tragödie der Ukraine 2014 begann, als infolge des 5 Mrd US-$ Staatsstreichs mit Duldung und Unterstützung „der freien, demokratischen Wertegemeinschaft“ offen neonazistische Kräfte die Macht im Land übernahmen und sich daran machten, die russische und russischsprachige Bevölkerung zu diskriminieren, die russische Sprache, Kultur und die kanonische Orthodoxie auszurotten und einen blutigen Bürgerkrieg im Donbass zu provozieren.

    Die Behauptungen, Russland habe gegen das Minsker Abkommen verstoßen, was nichts anderes ist als eine Verdrehung der Tatsachen, halten keiner Kritik stand. Die ehemaligen Staats- und Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands und der Ukraine haben mehr als einmal öffentlich zugegeben, dass sie dieses Abkommen lediglich zur Vorbereitung eines Krieges benutzt haben.

    Komisch:
    Die Gentechnik-Spritzen-Irren (EU Kommission, inklusive der medialen 4.Gewalt Totalversager) verlauteten damals: „Die Pandemie der Ungeimpften“, was für eine niederträchtige, potschate Lüge.

    Die selbe Verschwörung, nun mit dem Kriegsirren-Label malen „Den Russen, der uns bis zum Atlanrik überrennen möchte“, an die Wand, die s-e-l-b-e niederträchtige, potschate Lüge.

    Der Pazifismus ist nicht tot, nein er wird unterdrückt, zensuriert, neutralisiert –

    Textgrundlage T. Röper

  4. Jurgen 8. März 2025 um 15:58 Uhr - Antworten

    Nun ja, wir befinden uns hier (in den ehemals deutschen Gebieten) ausschließlich im Handelrecht. Der Pazifismus ist im Waffenstillstand ein unbedingtes MUSS! Zumindest bis der Bund, die Bundesrepublik und die Bundesländer fertig abgewickelt wurden, was wohl bis zum Jahre 2030 endlich soweit sein wird.
    Im Handelsrecht ist jede Vertragsofferte als absolut freiwillig für jeden Souverän (und das sind wir hier alle) zu betrachten, sogar auch ein Einberufungsbescheid (deswegen wurde die Wehrpflicht ja ursprünglich auch aufgehoben!).

    Und Gott ist nur „tot“, weil z.B. der Papst sich in dessen Vertreterrolle erhoben hat. Bisher hat die älteste Firma, der Vatikan, diesen seinen Grundfehler nicht einmal eingesehen. Gott schaut lange zu, aber einseitige Energien werden auf jeden Fall ausgeglichen! Die gesamte Erde gehört allen Lebewesen auf diesem Planeten, der Frevel ist die Gier und die Macht, die zur Ausbeutung misbraucht wird. Damit ist bald Schluß, die Eingriffe sind zu massiv!

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