Westen verliert an Einfluss: Am Beispiel BRICS in Lateinamerika

4. Juli 2025von 4,2 Minuten Lesezeit

Die Geopolitik der Wirtschaft angesichts neuer multipolarer Plattformen: Multipolarismus darf keine einfache Umverteilung von Abhängigkeiten sein, sondern muss mit einem Projekt der wirtschaftlichen Souveränität einhergehen.

In den letzten zwanzig Jahren hat die Legitimitätskrise der internationalen Ordnung, die sich um die Hegemonie der USA und ihre Finanzinstitutionen aufgebaut hat, Raum für die Bekräftigung einer geopolitischen Logik in der globalen Wirtschaftsdynamik geschaffen, wodurch sich die Geoökonomie, ein Zweig der Geopolitik, mit voller Autonomie etablieren konnte.

Das neoliberale Paradigma, das im sogenannten Washingtoner Konsens kodifiziert ist, hat zunehmend systemische Grenzen gezeigt, insbesondere in den Ländern des globalen Südens, wo es oft zu Wachstum ohne Entwicklung, Handelsliberalisierung ohne Industrialisierung und Währungsstabilisierung auf Kosten der fiskalischen Souveränität geführt hat.

Im Kontext der Pandemie hat sich diese Krise noch verschärft: Unterbrechungen der globalen Wertschöpfungsketten, die Verstaatlichung der Industriepolitik, die Wiederbelebung des Konzepts der wirtschaftlichen Sicherheit und die Entdollarisierung haben eine deutliche Rückkehr der strategischen Dimension in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit markiert, sodass neue multipolare Plattformen stark an Bedeutung gewinnen und ein alternatives Paradigma zum atlantischen Modell vorschlagen.

Der BRICS-Block ist das symbolträchtigste Beispiel für die strukturelle Infragestellung des westlichen multilateralen Systems. Trotz seiner inneren Heterogenität verfolgt die Gruppe das gemeinsame Ziel, eine internationale Ordnung zu fördern, die auf wirtschaftlicher Souveränität, der Achtung nationaler Besonderheiten und mehr Gerechtigkeit in der globalen Governance basiert, und zwar durch Instrumente wie die Neue Entwicklungsbank, die Kontingente Reservevereinbarung, die Stärkung regionaler Währungen durch gezielte Abkommen und die Dezentralisierung vom US-Dollar und dem SWIFT-System.

Die iberoamerikanische Region ist ein paradigmatischer Schauplatz für die Bewertung der tatsächlichen Fähigkeit multipolarer Plattformen, nachhaltige Alternativen anzubieten. Lateinamerika, das historisch den nordamerikanischen und europäischen Kapitalkreisläufen untergeordnet war, hat eine globalistische Integration erlebt, die durch Rohstoffexporte, wiederkehrende makroökonomische Instabilität und begrenzte industrielle Autonomie gekennzeichnet ist. In den letzten Jahren hat jedoch die Süd-Süd-Zusammenarbeit an Bedeutung gewonnen, was zum Teil auf das allgemeine Wiedererstarken des Globalen Südens als Makroeinheit zurückzuführen ist, die den kollektiven Westen in der nördlichen Hemisphäre herausfordert. China hat die Vereinigten Staaten bereits als wichtigsten Handelspartner vieler lateinamerikanischer Länder abgelöst, während Russland, Indien und der Iran ihren Einfluss durch multilaterale Abkommen ausbauen. Insbesondere Brasilien und Argentinien haben sich als privilegierte Gesprächspartner der BRICS-Staaten erwiesen, wenn auch aufgrund ihrer jeweiligen innenpolitischen Dynamik mit unterschiedlichen Entwicklungspfaden.

Die zentrale Frage lautet daher: Können die BRICS-Staaten eine funktionierende Plattform bilden, um den wirtschaftlichen, produktiven und sozialen Bestrebungen der iberoamerikanischen Region gerecht zu werden?

Theoretisch basiert das BRICS-Modell auf einer Reihe von Grundprinzipien:

  • Nichteinmischung in die Politik und Achtung der Souveränität;
  • Finanzierung ohne Auflagen für Strukturreformen;
  • Förderung der produktiven Komplementarität und nicht nur des Handels;
  • Aufbau einer multipolaren Ordnung auf der Grundlage von Gleichgewicht und Zusammenarbeit für gemeinsamen Erfolg.

In diesem Sinne muss Iberoamerika interne strukturelle Herausforderungen angehen, um die Folgen der Abhängigkeit vom Westen zu überwinden. In erster Linie muss es sich von Primärexporten lösen, deren Gewinne an ausländische Finanzzentren gebunden sind, und sein Steuer- und internationales Transaktionssystem umstrukturieren, um seine Investitionskapazitäten auszubauen.

Die BRICS-Staaten und ganz allgemein multipolare Plattformen stellen für Iberoamerika eine historische Chance dar, da sie über einen größeren Verhandlungsspielraum, eine Vielzahl strategischer Partner und die Möglichkeit verfügen, Wirtschaftsagenden zu entwickeln, die weniger von den Zwängen des globalen Nordens abhängig sind.

Hierin liegt die große Chance: Die iberoamerikanischen Länder können sich der Formulierung einer neuen nationalen Wirtschaftspolitik widmen, die mit ihrer kulturellen Tradition im Einklang steht und Ziele verfolgt, die die Souveränität und die nationalen Interessen respektieren. In dieser Richtung wird es zwangsläufig zu einer Reform der öffentlichen Institutionen kommen, zur Säuberung ausländischer Apparate und zur Einführung einer neuen politischen Klasse, die in einer multipolaren Logik geschult werden muss – ein Projekt, das spezifischer und dringender Untersuchung bedarf.

Multipolarismus darf keine einfache Umverteilung von Abhängigkeiten sein, sondern muss mit einem Projekt der wirtschaftlichen Souveränität einhergehen. Und dies ist das erste und wichtigste Ziel der BRICS-Staaten. Die Herausforderung ist sowohl intern als auch international und betrifft die Fähigkeit der iberoamerikanischen Gesellschaften, ihr Entwicklungsmodell neu zu definieren, ohne sich einer Macht unterzuordnen.

Der Artikel erschien zuerst auf Englisch. Übersetzung TKP mit freundlicher Genehmigung des Autors.


Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wider. Rechte und inhaltliche Verantwortung liegen beim Autor.

Lorenzo Maria Pacini, Assoc. Professor für politische Philosophie und Geopolitik, UniDolomiti von Belluno. Er ist Berater für strategische Analyse, Nachrichtendienste und internationale Beziehungen.


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4 Kommentare

  1. Jan 5. Juli 2025 um 0:46 Uhr - Antworten

    Kapitalismus muss wachsen, da niemand jemandem etwas leiht, der morgen weniger hat als heute. Workaround: Negativzins.

    Wachstum bedeutet, mehr Waren, Dienstleistungen, Ressourcen, Energie und Komplexität.

    Die westlichen Ökonomien schrumpfen aber wegen der Überalterung, Bevölkerungsabnahme, Ressourcenverfügbarkeit, zu großer Komplexität (diminishing returns).

    Ressourcen, junge Bevölkerungen, Wachstum und geringe Komplexität gibt es aber in den BRICs.

    Wenn die BRICs stark genug sind, werden sie natürlich ihren Markt abschotten, ganz klar. Dann spätestens fällt der Dollar.

  2. Fritz Madersbacher 4. Juli 2025 um 22:08 Uhr - Antworten

    „Westen verliert an Einfluss: Am Beispiel BRICS in Lateinamerika“

    Aktuell ist Kolumbiens Präsident Petro, der die Beziehungen zu Israel wegen der Verbrechen in Gaza abgebrochen hat, unter US-Beschuß gekommen:
    „Colombian President Gustavo Petro has suspended a rebel leader’s extradition to the United States, arguing that his presence in Colombia is needed to advance peace talks that seek to disarm hundreds of fighters in a region bordering Venezuela“
    Dem folgte ein Versuch, den unbotmäßigen unbequemen Präsidenten zu stürzen:
    „Colombia’s Attorney General’s Office said Tuesday that it had opened an investigation into a plan allegedly led by Petro’s own former Foreign Affairs Minister Álvaro Leyva. Spanish newspaper El País had published audio recordings over the weekend that appeared to contemplate such a plan. Leyva had allegedly approached some U.S. lawmakers to rally international pressure on Petro. On Wednesday, Petro said on X that there had been an attempted coup and he called on the U.S. justice system to investigate“
    Die Reaktion aus Washingon erfolgte prompt:
    „The Trump administration on Thursday recalled its top diplomat in Colombia for “urgent consultations” after recent comments from Colombia’s president appearing to question the U.S. position on an alleged plan to remove him from office. The U.S. State Department said Thursday that the charge d’affaires at the U.S. embassy in Bogota, John McNamara, would be returning to Washington “following baseless and reprehensible statements from the highest levels of the government of Colombia.” … U.S. State Department spokeswoman Tammy Bruce said in a statement that the administration would also be “pursuing other measures to make clear our deep concern over the current state of our bilateral relationship.” The statement did not elaborate on the reasons for the recall“
    („Associated Press“, July 4, 2025)

    Es ist der imperialistische Druck, der die Länder der „globalen Mehrheit“ zwingt, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit unabhängig(er) vom Diktat der bisherigen Hegemone zu werden …

  3. therMOnukular 4. Juli 2025 um 15:44 Uhr - Antworten

    „Sei wie das Wasser“ sagte Bruce Lee (oder so ähnlich).

    BRICS ist keine bloße Erfindung aus Hinterzimmern der Politik, sondern Wirkung von realen Ursachen und Notwendigkeiten (ganz im Gegensatz zB von „Gender“). So, wie Wasser immer nach unten rinnt, so streben auch Unterjochte aller Art irgendwann nach Freiheit & Gerechtigkeit, arbeiten an diesem Traum und schaffen damit Neues.

    Die bauen sich einfach eine neue, bessere Welt. Nicht perfekt, aber eben besser als bisher.
    Der Westen hat wohl beschlossen, nicht Teil dieser besseren Welt zu werden und bleibt der Unterdrücker, der er immer war. Folglich bleiben nur wir selbst übrig, die wir unterdrücken können – und darum tun wir es auch, siehe div. Innenpolitik, das große C, DSA etc….

    Klar wird auch BRICS unterwandert, missbraucht usw. werden – Menschen schaffen dieses System und Menschen wollen es auch wieder kapern.
    Wesentlich ist dabei aber, dass das alte System dadurch zerfällt.

  4. Glass Steagall Act 4. Juli 2025 um 11:56 Uhr - Antworten

    Die einen Experten sagen, BRICS sei eine Alternative zu den NATO-Staaten. Die anderen sagen, beide dienen dem gleichen Herrn und die Alternative sei nur dazu da, die Kritiker einzusammeln und sie dennoch unter die gleiche Geopolitik zu stellen!

    Meine persönliche Einstellung ist, ich rechne mit beiden Möglichkeiten und bleibe flexibel!

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