Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas

21. Oktober 2024von 32,1 Minuten Lesezeit

Der Philosoph und Politikwissenschaftler Hauke Ritz möchte mit seinem aktuellen Buch Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas die Kinderfrage beantworten, warum der Westen Russland so sehr hasst. Dabei legt er den Schwerpunkt auf kulturelle Themen und entdeckt dabei nichts weniger als eine neue Dimension von Herrschaft. Ausführliche Rezension zur Neuerscheinung. 

Im ersten Teil des Buches untersucht er das Verhältnis der USA zu Russland und Europa im Allgemeinen aus ideologischer und machtpolitischer Perspektive. In großen Teilen schreibt er damit eine Weltgeschichte der Zeit nach 1989, die aus kritischer Perspektive bisher noch nie erzählt worden ist. Im zweiten und ausführlicheren Teil stellt Ritz ausgehend vom CIA-Projekt Kongress für kulturelle Freiheit die These auf, dass maßgebliche Milliardäre und der Tiefe Staat der USA verstärkt seit dem 70er Jahren die kulturellen Grundbegriffe Europas zerstört und dann umgeschrieben haben, um dem Sozialismus seine Plausibilität zu nehmen. Dabei griffen die Milliardäre auf den Philosophen Friedrich Nietzsche zurück, der bereits im 19. Jahrhundert ein gebrauchsfertiges Programm zur Umwertung aller Werte im Interesse der Reichen formuliert hatte.

Nur Russland ist dieser Zerstörung der europäischen Kultur bisher entgangen und damit in die Rolle des Zeugen geraten, der zu viel wusste und der deshalb beseitigt werden muss. Während die klassische europäische Kultur im übrigen Europa inzwischen weitgehend zerstört ist, wird sie in Russland nach wie vor gepflegt. Nur Russland kann als außenstehende Macht erkennen, was in Europa passiert und diese negative Entwicklung vielleicht sogar rückgängig machen. Solange die russische Staatlichkeit existiert, ist die US-Amerikanische Welthegemonie gefährdet. Die USA müssen also alles daran setzen, Russland zu zerstören.

Soweit die zentralen Thesen des Buches von Ritz. Sie sollen im Folgenden ausführlicher dargestellt werden.

Das unipolare Moment

Nach 1989 standen die USA einer Welt vor, über die sie nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich, rechtlich, ideologisch und kulturell die Hegemonie ausübten. US-Amerikanische Politiker waren überrascht und erfreut über die Leichtigkeit ihres Sieges über den Erzfeind Sowjetunion und den Sozialismus.

Wichtige Strategen der 90er Jahre waren Charles Krauthammer und Francis Fukuyama. Krauthammer stellte zutreffend fest, dass die USA nun für einige Jahrzehnte die einzige Macht waren, die in der Lage ist, globale Politik zu gestalten. Er nannte dies das unipolare Moment. Alle anderen Mächte müssten sich dem Führungsanspruch der USA beugen. Fukuyama proklamierte das Ende der Geschichte. Die bürgerliche, liberale Gesellschaft habe endgültig gesiegt.

Aus dieser Geisteshaltung entstand die Bewegung der Neocons, die spätestens seit 2001 die US-Außenpolitik dominiert. Die Neocons plädierten für eine offene Machtentfaltung der USA und hielten Diplomatie für Schwäche. Die USA müssten sich überhaupt nur solange an Verträge halten, wie ihnen diese nützen. Durch Krieg soll die Entstehung eines Rivalen der USA dauerhaft verhindert und die Gesellschaft nach innen konsolidiert werden. Das ist ihnen mit dem Krieg gegen den Terror zumindest für zwei Jahrzehnte auch gelungen.

Der leichte Sieg der USA im Kalten Krieg bewirkte eine Aktualisierung der alten Herrschaftsideologie von den USA als der Stadt auf dem Hügel bzw. dem neuen Jerusalem. Das Land sei von Gott persönlich dazu beauftragt worden, die Welt zu beherrschen („manifest destiny“)

Die herrschende Klasse der USA steigerte sich in einen richtiggehenden Eroberungsrausch hinein und sie führten einen Krieg nach dem anderen. Zugleich schoben sie die NATO-Grenze im „Wilden Osten“ Europas immer weiter an Russland heran. 

Machtpolitische und ökonomische Gründe für die Feindschaft zu Russland

Für die auch nach 1989 weiterbestende Feindschaft der USA zu Russland nennt Ritz folgende Erklärungsansätze:

  1. Russlands Nuklearwaffen

Russland verfügte als Nachfolgestaat der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre immer noch über rund 9.000 Nuklearwaffen, die damit denjenigen der USA ebenbürtig waren. Die USA erwarteten, dass es Russland mit fortschreitendem Staatszerfall nicht mehr möglich sein würde, diese aufrecht zu erhalten und dass sie auf einen Kernbestand von vielleicht 400 Sprengköpfe schrumpfen würden.

Gleichzeitig starteten die USA ein riesiges Investitionsprogramm für eine Erneuerung ihrer Nuklearwaffen und im Bereich Raketenabwehr. Wobei Anfang der 10er Jahre die Raketenabwehr in Polen und Rumänien stationiert wurde. Damit wollten die USA in der Lage sein, einen Erstschlag durchführen zu können, ohne einen russischen Zweitschlag befürchten zu müssen. Denn die wenigen russischen Raketen, die den US-Amerikanischen Erstschlag überstanden hätten, könnten dann problemlos mit der Raketenabwehr abgefangen werden, so die Vorstellung.

Damit hätten die USA in der Tat über ein globales Gewaltmonopol verfügt und wären praktisch unverwundbar geworden.

Die langsame wirtschaftliche Erholung Russlands machte diese Planungen eigentlich obsolet. Auf die Raketenabwehr reagierte Russland mit der Entwicklung von Hyperschallwaffen, die mit ihr nicht abgefangen werden können. Präsident Putin stellte 2018 eine ganze Reihe dieser Waffen vor.

Dennoch gaben die USA ihre Pläne nicht auf, Russland zu zerstören. Dies sollte nun durch eine Kombination aus NATO-Osterweiterung, innerer Destabilisierung, militärischer Einkreisung und Informationskriegsführung geschehen.

  1. Globale Rohstoffkontrolle

Nachdem US-Präsident Nixon 1971 die Golddeckung des Dollars aufgegeben hatte, ist er seitdem faktisch mit Erdöl gedeckt. Aus diesem Grund ist es für die USA eine absolute Notwendigkeit, den Rohstoffhandel und die Handelsrouten zu kontrollieren. Sie müssen insbesondere verhindern, dass Erdöl mit einer anderen Währung als dem US-Dollar gehandelt wird. Nur so wird der Dollar die Weltreservewährung bleiben, wovon die USA sehr stark profitieren.

Nur unter diesen Umständen war es unproblematisch und für die US-Kapitalisten sehr profitabel, wenn die eigene Industrie nach China verlagert wird. Sie mussten nur verhindern, dass China sich auf eine eigene Rohstoffbasis stützen konnte. Es musste zudem gewährleistet werden, dass Chinas Wirtschaft mit dem US-Finanzsystem verflochten bleibt und das China den Rubikon zu einer selbständigen Technologieentwicklung nicht überschreitet.

Durch mehrere Kriege waren die USA in der Lage, den öl- und gasreichen Nahen Osten zu kontrollieren. Allerdings ist Russland das rohstoffreichste Land der Welt und Versuche von US-Kapitalisten, in den Besitz dieser riesigen Rohstoffvorräte zu gelangen, hat Präsident Putin vorerst unterbunden. Auch kamen die USA bei ihren Pipelineplänen für Öl und Gas aus Zentralasien nicht recht voran. Damit besteht die Möglichkeit, dass wichtige Staaten den Dollar als Währung für den Rohstoffhandel zugunsten anderer Währungen aufgeben. Dann könnte der Dollar seinen Status als globale Reservewährung verlieren und die USA könnten ihren heutigen globalen Einfluss nicht mehr aufrecht erhalten.

Auch hier ist Russland der Schlüssel. Sollte es den USA gelingen, das Land wie in der Jelzin-Zeit zu lateinamerikanisieren, könnten sie über China eine totale Rohstoffblockade verhängen. Dies wäre dann umso einfacher möglich, weil sie um die chinesischen Randmeere einen eisernen Ring von Militärstützpunkten gelegt haben und sie insbesondere problemlos die Straße von Malakka sperren, also die Halsschlagader des Welthandels abdrücken könnten.

  1. Folgen der Russischen Revolution

Russland muss nach dem Willen von US-Politikern und Milliardären dafür bestraft werden, dass es nach der Russischen Revolution von 1917 versucht hat, den Sozialismus einzuführen und dass es den USA mehrere Jahrzehnte getrotzt hat. Dies führte dazu, dass sich das Fenster für die 1989 doch noch erreichte US-Amerikanische Weltherrschaft fast geschlossen hätte. Deshalb ist ein freundliches oder gar ebenbürtiges Verhältnis zu Russland aus dieser Sicht absolut undenkbar. US-Politiker haben sich in die Vorstellung einer Erbfeindschaft zu Russland hineingesteigert.

Hauke Ritz meint, dass diese Erklärungen nicht vollständig sind. Denn eine US-zentrierte unipolare Welt impliziert, dass sich alle Staaten politisch, ökonomisch und kulturell den USA anpassen müssen. Demnach müssen alle übrigen Staaten, die in ihrer Geschichte ebenfalls ein historisches Projekt entworfen haben, so stark verändert oder eingedämmt werden, dass sie aus ihrer Geschichte kein eigenständiges Zivilisationsmodell mehr ableiten können.

Anfang der 90er Jahre waren es nur Europa und Russland, die diese theoretische Möglichkeit besaßen.

Der Kulturkrieg der USA

Damit betreten wir die Arena der Kulturkriegsführung, mit der sich Ritz im größeren Teil seines Buches beschäftigt.

Zu Beginn des Kalten Krieges fanden die USA ein Europa vor, in dem es große Sympathien für den Sozialismus gab, während gleichzeitig der Liberalismus völlig diskreditiert war. Er galt als Verursacher der Weltkriege und Wirtschaftskrisen. Der Liberalismus wurde umso kritischer gesehen, weil er schnell in eine offene Diktatur umschlug, wenn die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in Gefahr gerieten.

Auch die europäischen Intellektuellen als wichtige Multiplikatoren hatten große Sympathien für den Sozialismus und die Sowjetunion.

In den Sozialwissenschaften dominierte die Methoden von Hegel, Marx und Freud. Insbesondere der Marxismus ermöglichte es den Wissenschaftlern, gesellschaftliche Prozesse zu analysieren, die vorher einem wissenschaftlichen Verständnis nicht zugänglich gewesen waren. „So war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts davon geprägt, dass linke Theoretiker, wenn es darum geht, die Erscheinungsformen der Moderne theoretisch zu erfassen und den historischen Prozess zu interpretieren, ihre liberalen und konservativen Kollegen weit hinter sich ließen.“ (S. 145)

Zudem war der große Teil der Kulturkritik und Essayistik von marxistischen Perspektiven und Wertmaßstäben geprägt.

Der in den USA einflussreiche Liberalismus spielte in Europa keine Rolle mehr. Die einzige Gegenkraft zum Sozialismus war nach Worten von Ritz der Konservatismus. Allerdings war dieser nach dem Bedeutungsverlust des Adels auf die Christdemokratie beschränkt, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit von den USA stark gefördert wurde. Der Katholizismus stand zwar für strikte Sexualunterdrückung der Jugend und die Rekonstruktion der in Kriegszeiten stark ramponierten Familie, aber mit der katholischen Soziallehre war er ökonomisch der Sozialdemokratie ähnlicher als dem Liberalismus.

Wenn die USA den Kalten Krieg gewinnen wollten, mussten sie versuchen, den als fremd empfundenen Liberalismus in den Denkgewohnheiten der Europäer zu verankern. Das war umso wichtiger, als Europa in der Nachkriegszeit noch das Kulturzentrum der Welt war. Auch die Konsumkultur und das Wohlstandversprechen konnte die Hegemonie der Linken nicht brechen.

Es gab 1989 für die Sowjetunion keinen Grund zu kapitulieren. Die Wirtschaftskrise der 80er Jahre wäre durch Reformen innerhalb der Planwirtschaft lösbar gewesen. Ursache für die Kapitulation der Sowjetunion war nach Meinung von Ritz die Tatsache, dass es dem Westen gelang, eine kulturelle Hegemonie herzustellen. In ganz Osteuropa verbreitete sich die Vorstellung, die westliche Welt sei die wirkliche Welt und der Sozialismus nur eine schlechte Kopie. Von dieser Idee wurde schließlich auch die sowjetische Führungsschicht unter Gorbatschow infiziert.

Erreicht wurde der Sieg der USA im kulturellen Kalten Krieg durch verdeckte Einflussnahme, vor der längst noch nicht alle Tatsachen bekannt sind. Gesichert ist, dass die CIA über eine indirekte Finanzierung den Kongress für Kulturelle Freiheit aufzog, der eine nichtsozialistische und prokapitalistische Kultur schaffen sollte. Zentrales Einflussmedium waren Kulturzeitschriften wie Der Monat in Deutschland und Preuves in Frankreich.

In diesem Rahmen förderte die CIA den abstrakten Expressionismus eines Jackson Pollack, der sich dann im ganzen Westen als fast einzige Richtung der bildenden Kunst durchsetzte. Dies hatte für die USA den Vorteil, den sozialistischen Realismus der Sowjetunion noch altmodischer aussehen zu lassen, als er ohnehin schon war.[1] Als Folge dieser Entwicklung wurde New York zur Kulturhauptstadt der Welt, während Paris diesen Status verlor.

Mit dem Kongress für Kulturelle Freiheit gelang es, sozialistische oder neutrale Intellektuelle einzuschränken und zu isolieren. Dies war zum Beispiel der Fall bei Jean-Paul Sartre, während Albert Camus als Anti-Sartre aufgebaut wurde. Eine mediale Hetzkampagne des Kongresses verhinderte 1963 die Verleihung des Literaturnobelpreises an Pablo Neruda.

1967 wurde die CIA-Finanzierung des Kongresses für Kulturelle Freiheit bekannt, der deshalb 1969 aufgelöst werden musste. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Kulturpolitik der CIA auf andere Weise fortgesetzt wurde. Allerdings unterliegen entsprechende Informationen darüber bis heute der Geheimhaltung.

Besonders wirkungsvoll erwies sich die US-Amerikanische Rock- und Popmusik, die ab 1964 in Deutschland und ab 1968 in Österreich gleichberechtigt mit einheimischer Popmusik im Radio gespielt wurde. Dadurch wurde die junge Generation viel stärker amerikanisiert als ihre Eltern.

Es bleibt die Vermutung, dass auch dies nicht spontan geschah. Die folgenden Fakten sind im Buch von Ritz nicht aufgeführt, aber sie passen sehr gut zu seinen Forschungen: 1968 gab es den Schnulzenerlass von ORF-Generalintendant Gerd Bacher, der darin anordnete, dass im Jugendsender Ö3 zu mindestens 50% englischsprachige Musikstücke zu spielen seien. Man sprach ausdrücklich von einer Entroyblackisierung. Dieser Gerd Bacher geriet am Ende des Zweiten Weltkrieges in US-Amerikanische Kriegsgefangenschaft und arbeitete dann als Zeitungsjournalist in Salzburg, das zur amerikanischen Besatzungszone gehörte. Zufälle gibt es…

Die CIA erkannte nach 1948 recht bald, dass es in Europa nicht zielführend war, Linkssein an sich zu bekämpfen. Man musste jungen Menschen lediglich eine Alternative zum herkömmlichen linken, also im Kern marxistischen Weltbild bieten. Die linke Identität sollte angegriffen und uminterpretiert werden. Ziel war es, eine nichtmarxistische Linke aufzubauen. Dies bedeutete, den Fokus der Linken vom Hauptwiderspruch Kapital-Arbeit abzulenken und sie auf Nebenwidersprüche zu orientieren, zum Beispiel auf Rassen- und Frauendiskriminierung, Naturzerstörung und Sexualunterdrückung.

Mit der Gründung der Grünen Parteien am Ende der 70er Jahre war diese Operation im Wesentlichen erfolgreich abgeschlossen.

Damit wurden sozialistische Parteien an den Rand gedrängt. Je mehr sich die linke Identität im Westen veränderte, desto altmodischer wirkten die sozialistischen Staaten im internationalen Kontext. Hinzu kam der ständige Vorwurf des Kollektivismus und Totalitarismus, der gegen sie im Westen geschleudert wurde. Die Totalitarismustheorie wurde in den 50er Jahren von Hanna Arendt entwickelt und behauptet, Sozialismus und Faschismus seien bloße Varianten beim Streben nach totaler Macht. Der Sozialismus könne nur als kollektivistische totalitäre Überwachungsdiktatur in Erscheinung treten. Auf diese Weise wurde die Verantwortung des Liberalismus für das Aufkommen des Faschismus geleugnet und er selbst rehabilitiert.

Die westlichen Linken mussten sich fortan vom Sozialismus distanzieren, was bedeutete, sich als linksliberal zu identifizieren.

Das Weltbild des Christentums und seiner säkularen Nachfolger

Diese mehr äußerliche Diskreditierung des Sozialismus reichte jedoch noch nicht aus, um die Hegemonie der hegelianisch-marxistischen Tradition in Europa dauerhaft zu brechen.

Bereits um 1950 war in den Sozialwissenschaften bekannt, dass die Aufklärung und von dieser abgeleitet der Sozialismus im Christentum wurzelten, also praktisch säkularisierte und verweltlichte Glaubensinhalte waren.

Diese Säkularisierung bedeutete eine Übersetzung christlicher Werte und Vorstellungen in eine moderne Sprache, zum Beispiel die der Nationalökonomie. Zum Anderen erfolgte ein Wechsel der Ebenen: Aus der christlichen Gleichheit der Menschen vor Gott wurde die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz. Aus der christlichen Nächstenliebe die soziale Gleichheit und damit der Sozialismus. Zwar lehnte das Christentum den Sozialismus schroff als blasphemisch ab, da er mit der Weltrevolution eine Selbsterlösung des Menschen proklamiere, was aber nicht möglich sei. Nur Gott könne den Menschen erlösen. Aber das Hoffen der Sozialisten auf die Weltrevolution bedeutet dennoch eine Übernahme des christlichen Zeitempfindens.

Im Christentum ist die Zeit nicht länger Repräsentant einer natürlichen, schicksalsgebundenen Ordnung, sondern aus der Natur herausgefallen und auf Gott und den Menschen bezogen. Denn im Unterschied zum Heidentum mit seiner zyklischen Zeitvorstellung hat die Zeit im Christentum ein Ziel – das Reich Gottes. Letzteres geht einher mit der Erlösung des Menschen. Da liegt der Gedanke nahe, das Reich Gottes schon im Diesseits verwirklichen zu wollen. Das ist der Hintergrund jeder Revolution in Europa seit dem Großen Deutschen Bauernkrieg 1525. Ja Ritz geht sogar noch weiter und behauptet, dies sei sogar die Ursache für die dichte Abfolge von Revolutionen in der europäischen Neuzeit (S. 187). Dabei bezieht er sich vor allem auf Karl Löwith. Sogar der Begriff Revolution ist mit messianischen Energien aufgeladen und ohne diese nicht denkbar.

Jede erfolgreiche Revolution stärkt die Forderung nach einer Emanzipation des Menschen und löst eine Dynamik aus, die nicht einfach wieder eingehegt werden konnte. Einen Abschluss würde diese Entwicklung nur mit einer kommunistischen Gesellschaftsordnung finden.

Ritz zitiert zustimmend Karl Löwith: „Es würde sich keine englische, französische und russische Revolution ereignet haben ohne den Glauben an Fortschritt und es würde keine weltliche Fortschrittsideologie geben ohne den überweltlichen Glauben an ein künftiges Heilsgeschehen.“ (S. 188)

In der Fortschrittsvorstellung galt die Vergangenheit als Vorbereitung und die Zukunft als Erfüllung. In diesem Sinne konnte das christliche Schema des Heilsgeschehens als natürlich und beweisbar erscheinen.

Die reale Umwertung aller Werte

Diese Fakten und Theorien waren wie gesagt Anfang der 50er bekannt. Die herrschenden kapitalistischen Familien und Dynastien mussten ihre Gegenoffensive also mit Rücksicht auf diese Einsichten entwerfen und planen.

In den USA und Großbritannien strich man kurzerhand Hegel und Marx aus den Lehrplänen der Universitäten. In Europa war dies damals noch nicht möglich, weil ein solches Verbot als Aufhebung der Wissenschaftsfreiheit empfunden worden wäre.

So blieb nur der mühsamere Weg, mit der Etablierung einer neuen Generation von Philosophen, die ideengeschichtlichen Traditionslinien neu zu knüpfen. Auch das Christentum als Basis des Sozialismus musste geschwächt, am besten sogar vernichtet werden.

Tatsächlich traten in den 70er Jahren mit Michel Foucault, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Jean-François Lyotard und Jacques Derrida mehrere Philosophen auf, die dieses Unternehmen der Umwertung aller Werte in Angriff nahmen. Dabei bezogen sie sich auf Friedrich Nietzsche, den Anti-Marx des 19. Jahrhunderts. Diese neuen Philosophen wurden in Frankreich populär durch Fernsehinterviews, die marxistisch orientierten Intellektuellen verwehrt wurden. Wie schon im Fall des Schnulzenerlasses würde es ausreichen, wenn wenige US-Amerikanische Einflussagenten an entscheidenden Machthebeln im französischen Fernsehen gesessen hätten.

Ein Kernelement der damaligen linken Weltanschauung war der Glaube an die Möglichkeit des Fortschritts. Jede aktive antisozialistische Kulturpolitik musste diesen Glauben schwächen. „Denn nur wenn in der Gesellschaft ein geteilter Glauben an die Möglichkeit einer besseren Zukunft existiert, nur dann kann auch für diese Annahme gestritten werden.“ (S. 192)

Tatsächlich wurde der Fortschrittsgedanke seit den 70er Jahren systematisch diskreditiert und durch die Erwartung dystopischer Zukunftsvisionen ersetzt. Ein entscheidender Schritt waren die Veröffentlichungen des Club of Rome ab 1972, die Befürchtungen eines unausweichlichen Zusammenbruchs der modernen Industriegesellschaften auslösten. Bei den ökologischen Untergangsvisionen wechselten regelmäßig die Begründungen, nur die Botschaft blieb gleich: Ressourcenverknappung, allgemeine Verschmutzung, Waldsterben, neue Eiszeit, globale Erwärmung etc.

Die neuen Philosophen zerstörten auch die Vorstellung vom Subjekt. Denn nur wenn es historische Subjekte gibt, zum Beispiel die Arbeiterklasse, die Intellektuellen oder den Revolutionär, konnte der Glauben an den Fortschritt seinen revolutionären Kristallisationspunkt finden. Wenn aber Gott nicht existiert, könne es auch keine einheitlichen Subjekte geben, so die neuen Philosophen. Das einheitliche Ich wird genauso dekonstruiert wie Klassen und der Klassenkampf.

Parallel dazu fand ein Wandel des Menschenbildes statt. Das vom Humanismus geerbte optimistische Menschenbild, das die Vernunftbegabung des Menschen, seine schöpferischen Fähigkeiten sowie seine Begabung zur Verantwortung und Freiheit in den Mittelpunkt gestellt hatte, bildete letztlich die Grundlage für alle Utopien und damit auch für den Kommunismus.

Seit den 70er Jahren wird die zerstörerische, irrationale und unberechenbare Seite des Menschen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Der Mensch sei vor allem ein Umweltverschmutzer, Rassist und Sexist. Dies führte inzwischen zu extremen Auswüchsen. So muss die menschliche Sprache gereinigt werden, damit die destruktiven Eigenschaften nicht die Oberhand gewinnen. Überhaupt gilt der Mensch als Mangelwesen, das durch Technologie verbessert werden müsse (Transhumanismus). Der Glaube an die kreativen und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen geht verloren. Somit haben Meinungs- und Pressefreiheit, Kunstfreiheit und die Idee einer gerechten Gesellschaft keine Bedeutung mehr. Der Mensch als destruktives und gewalttätiges Mangelwesen muss kontrolliert und bevormundet werden.

Die hohe Wertschätzung der Vernunft im Zeitalter der Aufklärung geht auf die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zurück. Inzwischen kommt es – beginnend mit der sexuellen Revolution nach 1968 – zu einer Aufwertung des Trieblebens, die mit der LGBTQ-Bewegung immer absurdere Blüten treibt.

Der Begriff der Wahrheit geht einerseits auf die griechische Philosophie, andererseits auf das Christentum zurück. Denn wenn Gott die Welt mit seinem Wort geschaffen hat, ist dieses Wort in allen Elementen der Schöpfung auffindbar und kann gelesen werden. Daraus ergibt sich die Annahme der Existenz von Naturgesetzen und die Möglichkeit, diese zu erkennen. In der Postmoderne ist der Wahrheitsbegriff gründlich zerstört worden, zunächst die Verbindung zwischen Wahrheit und Geschichte. Das Ende der großen Erzählungen wird proklamiert. Inzwischen ist der Wahrheitsbegriff soweit subjektiviert, dass fast alle Kategorien zu Interpretationen werden, die manchmal bestimmten Minderheiten zugeordnet werden. Eine gemeinsame Debatte ist damit nicht mehr möglich.

Nietzsches philosophisches Programm

Diese inzwischen erfolgreich vollzogene Umwertung aller Werte ist wie gesagt durch Friedrich Nietzsche vorgeprägt worden. Er lehnt das Christentum ab, weil es die Idee der Gleichheit der Menschen vor Gott in die Welt gebracht hat. Auch lehnt Nietzsche Mitleid mit den Schwachen kategorisch ab. Er träumt von einer Welt, die wie die Antike Rangunterschiede zwischen den Menschen akzeptiert.

Nietzsche will Elemente der europäischen Kultur umschreiben, die eine proletarische Revolution befördern könnten. Er stellt einen ausdrücklichen Zusammenhang her zwischen der Bereitschaft der Arbeiter zur Revolution und dem linearen Zeitbegriff des Christentums. Seine Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen soll zum Einverständnis mit dem Gegebenen führen.

Der Anthropozentrismus des Christentums, aus dem Humanismus und Sozialismus entstanden sind, soll aus der europäischen Kultur ausgemerzt werden. Die zivilisatorische Ordnung soll wie eine Naturordnung hingenommen werden.

Der Kosmos stehe den Menschen gleichgütig gegenüber. Diese Gleichgültigkeit zwingt diesen, die Welt zu akzeptieren, wie sie ist, wodurch der Gedanke an Revolutionen und Utopien unmöglich wird.

Ziel Nietzsches ist die Hochzüchtung des Menschen und gleichzeitig die Vernichtung aller Entarteten und Parasitischen. Nietzsche möchte in eine Antike zurückkehren, in der ein bestimmtes Leben so wertlos ist, dass es in Gladiatorenkämpfen zur Unterhaltung der herrschenden Klasse geopfert werden kann.

Wer denkt da nicht an Yuval Noah Harari, bleibt hinzuzufügen, der die meisten Menschen zu einem überflüssigen Menschenmüll erklärt, der zunächst noch notdürftig durch Drogen und Videospiele am Leben erhalten wird, um schließlich doch beseitigt zu werden.

Die von Nietzsche gewünschte Religion, die das Christentum ersetzen soll, ist eine polytheistische Naturreligion ohne Transzendenz und Erlösung. Damit ist natürlich nicht das heutige Neuheidentum gemeint, das absolut marginal bleibt. Wohl aber wurde das Lebensgefühl des Heidentums wiederbelebt in Form der Vergöttlichung irdischer Gehalte wie der Natur (Klimareligion[2]), der Sexualität (LGBTQ-Bewegung), der Macht (Satanismus in Elitezirkeln) und der Technik (Transhumanismus).

Eine solche Vergöttlichung der Naturmächte enthält keinen Transzendenzbezug und ist mit den Interessen des Machterhalts der gesellschaftlichen Elite kompatibel.

Wenn die Vernunft zum Sozialismus führt, dann muss die Vernunft eben aufgegeben werden, so Nietzsche. Er richtet sich mit seiner Philosophie auch nicht an die breite Masse und will diese im Unterschied zu Marx nicht von seiner Position überzeugen. Nietzsche richtet sich vielmehr an eine kleine und einflussreiche Elite. Diese könnte seine Vision auch dann teilen, wenn sie nicht vernünftig ist.

Die Neuschaffung der Kultur

Offenbar haben Kapitaleliten in ihrem Kampf gegen den Sozialismus schließlich das gesamte philosophische Programm Nietzsches übernommen. Das bedeutet die Auflösung des Christentums und seine säkularen Ableger und die Schaffung einer völlig neuen Kultur aus der Retorte, die seine Stelle einnehmen soll.

Eine solche hypothetische Affinität der Kapitalelite zu Nietzsche ist durchaus zu erwarten, denn sein ganzes philosophisches Werk ist darauf gerichtet, eine sozialistische Revolution zu verhindern. Es kann zudem das Gewissen der reichsten Männer der Welt bei ihrem Ausbeutungs- und Unterdrückungswerk erleichtern.

Ritz vermutet, dass die angelsächsischen Kapitaleliten in der praktischen Durchführung des Kalten Krieges Machtmöglichkeiten entdeckt haben, die zunächst ihre Phantasie anregten, so dass sie sich in eine Vorstellung von Allmacht hineinsteigerten. Die dabei entstandenen Pläne könnten so weitreichend gewesen sein, dass sie selbst einem kapitalistischen Russland nicht mehr vermittelbar waren. Dies wurde zudem auch als überflüssig angesehen.

Der Westen erlebt gegenwärtig eine Kulturrevolution, die mindestens so radikal ist wie die chinesische zwischen 1966 und 1976. Wir bemerken nur nichts davon, weil sie sich langsamer, indirekter vollzieht und deshalb von vielen Zeitgenossen nicht als solche wahrgenommen wird.

Historische und nationale Identität wird aufgelöst, ebenso die Zuordnung von männlich und weiblich und jede Grenze. Es gibt kaum einen Begriff, der inzwischen nicht dekonstruiert wurde. Nach 1989 befindet sich Europa in einem Sog der fortschreitenden Relativierung seiner selbst.

Die Inhalte, die an Stelle der aufgelösten Vorstellungen getreten sind, wirken sehr künstlich, geradezu synthetisch. Das gilt zum Beispiel für Safe Spaces, das Konzept der Mikroaggression, die öffentliche Verhandlung von privaten Anliegen in der LGBTQ-Bewegung und die Nutzung von Gefühlen als Bewertungsmaßstab der Politik.

Auch die Klimabewegung mit ihrem Glauben an einen datierbaren Weltuntergang wirkt wie eine im Labor entworfene Wetter-Religion.

Ebenso künstlich ist die postmoderne Einteilung der Gesellschaft in lauter „unterdrückte“ Minderheiten.

Es ist unwahrscheinlich, dass diese absurden Erscheinungen auf dem Wege einer natürlichen kulturellen Evolution hätten entstehen können.

Die Logik dieser Entwicklung geht dahin, dass die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, die bisherige Kulturentwicklung fortzusetzen, ja auch nur den erreichten Stand der Zivilisation zu halten.

Die Milliardäre in ihren hohen Türmen

Unter normalen Umständen würde niemand eine solche Gesellschaft wollen. Allerdings legt das Klasseninteresse einer sehr reichen und privilegierten Klasse derartige Maßnahmen nahe. Denn würde Europa die Kontinuität seiner bisherigen Kulturentwicklung aufrechterhalten, könnte sich der Sieg des Kapitals über den Sozialismus als Pyrrhussieg erweisen. Dann würde diese Kultur erneut Gerechtigkeitsvorstellungen hervorbringen, wodurch das Milliardärseigentum gefährdet würde. Um den Sieg über den Sozialismus dauerhaft zu sichern, kommen die Milliardäre nicht umhin, den kulturellen Code Europas umzuschreiben.

Jeder Milliardär ist in der Lage, sich Politik kaufen zu können. Er verfügt in der Regel über ein eigenes Forschungsinstitut und kann wie aus einem hohen Turm Jahrzehnte in die Zukunft blicken.

Noch nie in der Geschichte hat sich so viel finanzielle, technologische und wissenschaftliche Macht in den Händen einer so kleinen Gruppe von Personen befunden. Dies hat katastrophale Folgen für die Gesellschaft und höhlt den Staat aus. Deshalb ist es für die Milliardäre umso wichtiger, sozusagen präventiv jede Entwicklung hin zu sozialer Gerechtigkeit und zum Sozialismus zu unterbinden.

Die Milliardäre waren vom Zusammenbruch des Sozialismus 1989 nicht überrascht, sondern haben ihn kommen sehen und entsprechenden Politiken entworfen. Nur nach Auslöschung des Sozialismus bestand ein relativ kurzes Zeitfenster von einigen Jahrzehnten, um ihren Sieg im Klassenkampf auf Dauer zu stellen. Sie haben erreicht, dass die Arbeiterklasse niemals wieder so mächtig werden kann, wie sie im 20. Jahrhundert gewesen ist.

Dazu gehörte auch, die Kultur in großem Maßstab umzuschreiben. Eine solche radikale Agenda kann selbstverständlich nur im engsten Kreis diskutiert und implementiert werden. Würde sie der Öffentlichkeit bekannt, verlöre sie zum großen Teil ihre Wirkung.

Nur Russland ist der Umschreibung der europäischen Kultur bis heute entgangen. Russland ist damit in die Rolle des Zeugen geraten, der zu viel wusste und der deshalb beseitigt werden muss. Damit die in Russland noch vorhandene klassisch europäische Kultur keine Strahlkraft auf den Rest Europas entfalten kann, ist aus Sicht der Milliardäre eine friedliche Zusammenarbeit des Westens mit diesem Land absolut undenkbar. Sie müssen wegen der möglichen Gefahr ihres eigenen Unterganges alles unternehmen, um Russlands Staatlichkeit zu beseitigen.

Die Bedeutung dieser Tatsache wird verständlich, wenn man versteht, dass Macht in der heutigen Welt zum großen Teil eine geistige und kulturpolitische Dimension angenommen hat.

Fazit

Mit der Umschreibung der Kultur hat Hauke Ritz eine neue Dimension der Herrschaft der Milliardäre entdeckt, die bisher nicht bekannt war und die viele Erscheinungen der Gegenwart erklären kann. Deshalb ist sein Buch Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas eines der wichtigsten des Jahres 2024. Ihm ist eine möglichst große Verbreitung zu wünschen.

Dabei muss man allerdings feststellen, dass die Umschreibung der Kultur bisher nur eine Hypothese darstellt, die Ritz aus den Wirkungen erschlossen hat. In diesem Bereich der Kulturkriegsführung haben die USA bisher nur zugegeben, was aus unabhängigen Quellen ohnehin schon bekannt war: Dass der Kongress für Kulturelle Freiheit indirekt von der CIA finanziert wurde und dass er 1969 aufgelöst wurde. Aber selbst aus der Zeit des Kongresses sind längst noch nicht alle Dokumente freigegeben. Vermutlich könnten aber investigative Journalisten in diesem Bereich noch viel mehr Fakten entdecken, wenn es sie noch gäbe.

Die Beschreibung der Grundannahmen der klassischen europäischen Kultur (hier im Abschnitt Die reale Umwertung aller Werte) habe ich in dieser Form schon lange nicht mehr wahrgenommen. Wahrscheinlich seit meinem Studium nicht mehr. Dabei wurden wir durchaus schon mit Foucault und Co. vollgestopft. Aber es gab vor den Bologna-Reformen durchaus einige ältere Professoren, die diese optimistischen Annahmen noch vertreten haben. Mir kam die Beschreibung bei Ritz wie ein Erwachen aus einem Alptraum vor. Dies zeigt sehr eindrücklich, was wir eigentlich verloren haben.

Dennoch gibt es an den theoretischen Annahmen von Ritz und an seinen Lösungsvorschlägen einige Kritikpunkte, die im Folgenden aufgeführt werden sollen.

  1. Idealismus

Hauke Ritz ist ein Idealist im philosophischen Sinne. Ideen sind für ihn das Primäre, welche dann eine materielle Realität hervorbringen. Darin folgt er Max Weber, dem Anti-Marx des 20. Jahrhundert, der Karl Marx von den Füßen auf den Kopf gestellt hatte. Für Ritz ist das Christentum mit seinem Monotheismus von entscheidender Bedeutung, sowohl für die europäische Expansion, der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft als auch für das Aufkommen von Gegenkräften.

Allerdings hatten bereits die Römer die gesamte ihnen zugängliche Welt erobert. Umgekehrt lehrt der Islam einen noch strengeren Monotheismus als das Christentum. Aber seine Expansion verebbte bald und er hat sich nie sehr weit vom Territorium der altorientalischen Reiche entfernt. Auch entwickelte er trotz seines strengen Monotheismus keine moderne Naturwissenschaft.

Der marxsche historische Materialismus kann diese Phänomene besser erklären. Demnach sind alle Gesellschaften expansiv, die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln basieren. Das gilt für die Sklavenhaltergesellschaft (Antike), den Feudalismus und den Kapitalismus. Dann gibt es aber auch noch die so genannte Asiatische Produktionsweise. Hier stehen sich die Bauernschaft und die im Staat organisierte herrschende Klasse unmittelbar gegenüber, ohne ein Dazwischentreten des Privateigentums. Zu solchen Gesellschaften gehört China und das Reich des Islam. Gesellschaften mit Asiatischer Produktionsweise sind keineswegs primitiv. Wie Ritz zutreffend feststellte, war China noch im 16. Jahrhundert die am höchsten entwickelte Gesellschaft der Welt. Aber ein endogener Antrieb für eine ständige Expansion existierte nicht. Ganz im Gegenteil bewirkte das Aufkommen von Großgrundbesitz und Kapitalkonzentration eine Schwächung des Staates, der schließlich seine Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung der Bewässerungslandwirtschaft nicht mehr erfüllen konnte. Hungersnöte und ein Sturz der jeweiligen Dynastie waren die Folge. Die neue Dynastie enteignete dann den Großgrundbesitz und teilte das Land gerecht auf. Damit begann der Zyklus von vorne.[3]

Primäre Ursache von Revolutionen ist nach Marx nicht das Christentum, sondern der Widerspruch zwischen fortschreitenden Produktivkräften und zurückgebliebenen Produktionsverhältnissen. Die Revolutionäre suchten dann eine Ideologie für ihre Forderungen, zu der auch bestimmte Aspekte des Christentums gehören konnten.

Das gilt teilweise auch für proletarische Revolutionen. Allerdings können sie nur siegen, wenn die Arbeiter ein klares Verständnis von ihren Aufgaben und ihren Gegnern haben. In zugespitzen revolutionären Situationen kann die Siegeszuversicht einer Klasse entscheidend sein, wie die Russische Revolution von 1917 zeigt. Eine solche Siegeszuversicht gab den Arbeitern der Fortschrittsglaube der klassischen europäischen Kultur. Einen solchen Fortschrittsglauben haben aber die Milliardäre inzwischen gründlich ausradiert.

  1. Kultur in der Sowjetunion

Ritz schreibt auf Seite 225, die Sowjetunion konzentrierte nach 1945 alle ihre Energien darauf, technologisch, wirtschaftlich und militärisch aufzuholen, während sie die Kultur vernachlässigte. Dem steht aber die Tatsache entgegen, dass russische Künstler nach 1917 unter extrem schwierigen materiellen Bedingungen einen wichtigen Beitrag zur Weltkultur der klassischen Moderne leisteten. Das gilt zum Beispiel für die Architektur (Narkomfin-Kommunehaus von Moses Ginsburg), die abstrakte Malerei (Mit dem Roten Pfeil schlagt die Weißen von El Lissitzky) und den Film (Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein). Katjuscha ist kein altes russisches Volkslied, wie viele meinen, sondern der bekannteste sowjetische Popsong. Noch in den 30er Jahren existierte eine vitale sowjetische Pop-Musik, die sogenannte Estrada. Unter günstigen Bedingungen hätte diese Kultur ihre Ausstrahlung auf den Westen behalten können, die in den 20er Jahren zweifellos vorhanden war.

Dass dies nicht passierte, lag wohl zum großen Teil am Stalinismus, der bestimmte Kunststile und Inhalte vorschrieb. Offenbar wird die Kultur steril und stirbt schließlich ab, wenn sie auf diese Weise gegängelt wird, wie wir gegenwärtig auch im Westen erfahren.[4]

Vermutlich hat der Stalinismus hierdurch unbeabsichtigt die Voraussetzungen geschaffen für den Sieg der USA 1989 im Kulturkrieg.

  1. Bedeutung der sexuellen Revolution

Ritz bewertet die sexuelle Revolution der 68er negativ als Vorläufer der heutigen LGBTQ-Bewegung. Er kann in ihr nur eine Aufwertung des Trieblebens des Menschen entdecken (S. 195). Dies ist wohl durch seine positive Bewertung des Christentums und der Christdemokratie zu erklären. Allerdings haben viele insbesondere junge Menschen unter der in der Nachkriegszeit wieder massiv verschärften Sexualunterdrückung gelitten, wie zum Beispiel die Autorin Ulrike Heider in ihrer Autobiographie zeigt[5]. Insofern war die sexuelle Revolution durchaus gerechtfertigt.

In der DDR dagegen war eine solche abrupte Änderung der Verhaltensweisen der Menschen nicht notwendig, weil das sozialistische Lager die erneute Welle der Sexualrepression in der Nachkriegszeit nicht mitmachte. Deshalb kam es hier zu einer eher evolutionären Entwicklung in Richtung mehr sexueller Freiheit.

An dieser Entwicklung erkennt man, dass die klassische europäische Kultur auch ihre Schattenseiten hatte und so wie sie war, wahrscheinlich nicht mehr wiederhergestellt werden kann. Das Christentum hat mit der Eschatologie durchaus progressive, revolutionäre Elemente, aber auch reaktionäre. Die bereits bei Paulus vorhandene Sexualverneinung gehört zu den letzteren.

Der von Ritz mehrfach positiv erwähnte Siegmund Freud hat die krankmachenden Folgen der Sexualunterdrückung nachgewiesen.

Auch dürfte es kaum möglich sein, den klassischen Konservatismus, also die Nachkriegschristdemokratie wiederzubeleben, wie Ritz auf Seite 254 fordert. Die dazu nötigen neurotischen Charaktere sind schlicht und einfach ausgestorben. Ich meine damit solche Gestalten wie den Bauminister Paul Lücke (CDU) unter Adenauer, der Mehrfamilienhäuser strikt ablehnte, weil diese zwangsläufig den Verfall der Familie, Ehebruch und damit den Kommunismus hervorrufen würden.

  1. Lösungsvorschläge

Ab Seite 254 macht Ritz auch einige Lösungsvorschläge für einen Ausweg aus dem von den Milliardären geschaffenen Dilemma. Daran ist zu kritisieren, dass er überhaupt nicht angeben kann, wie wir diese Lösungen erreichen sollten. Sie wirken deshalb wie ein Wunschzettel. Manche Vorschläge sind meiner Meinung nach auch entweder unrealisierbar oder zu kurz gegriffen.

Letzteres gilt zum Beispiel für Lösungsvorschlag 4, wo Ritz eine Entflechtung der großen Datenmonopole vorschlägt, nicht aber die Enteignung ihrer Besitzer. Dies richtet sich an eine Klasse, die offensichtlich zu jedem Kompromiss unfähig ist und die unnachgiebig auf dem eigenen Maximalprofit und ihrer eigenen absoluten Machtausübung besteht. Wenn die Menschen Europas wirklich noch einmal in die Situation kommen sollten, die Digitalmonopole entflechten zu können, dann kann man sie gleich enteignen und eine neue Planwirtschaft schaffen, die allen Menschen Wohlstand garantiert. Dann wäre sichergestellt, dass sich Monopole nicht mehr neu bilden können. Überhaupt bestimmen Monopole spätestens seit 1895 das Wirtschaftsleben. Die Vorstellung, unter den heutigen technologischen Bedingungen in einen Kapitalismus der freien Konkurrenz zurückkehren zu können, ist abwegig.

Ritz lehnt auf Seite 241 die Kernenergie, die Künstliche Intelligenz und die Gentechnik ab, weil alle drei Technologien antihumanistische Konsequenzen hätten. Insofern hat er durchaus Elemente der grünen Ideologie aufgenommen. Dabei ist die Kernenergie die einzige Technologie, die für alle 8 Milliarden Menschen ein Leben in Wohlstand ermöglichen kann.[6]

KI und Gentechnik haben nur in den Händen der Milliardäre tatsächlich antihumanistische Konsequenzen. Sie wollen damit die Weltbevölkerung knechten, sich selbst aber das ewige Leben verschaffen. Heute wird KI eingesetzt zur Totalüberwachung des Menschen, sie könnte aber auch genutzt werden, um eine globale Planwirtschaft zu schaffen, um hierdurch allen Menschen einen materiellen Überfluss an Konsumgütern bereitzustellen. Die materiellen Mittel sind längst vorhanden oder können in kurzer Frist geschaffen werden.

Gentechnik könnte nicht nur zur Optimierung der Nachkommen unserer superreichen Milliardäre eingesetzt werden, wie von Harari gefordert, oder für gefährliche „Impfstoffe“, sondern auch wie bisher schon zur Pflanzenzüchtung. Angesichts einer rasant wachsenden Weltbevölkerung dürfen wir auf diese Möglichkeit nicht verzichten.

Ritz hofft, dass allein eine Aufklärung ausreichen würde, um den Kurs Europas grundlegend zu ändern. Wenn das nicht passiert und sich die Situation weiter verschlechtert, würde es zu einer Art „Katharsis“ kommen, die eine neue Orientierung in der Welt erzwingt. Offenbar meint Ritz hiermit eine Revolution, die er aber in wenigen dürren Worten abhandelt. Dies ist umso unverständlicher, als Ritz selbst in seinem Buch in aller Ausführlichkeit auf den messianischen, eschatologischen Gehalt der bisherigen Revolutionen hinweist.

Eine Revolution ohne dies wäre eher ein verzweifeltes Aufbegehren, wie die Unruhen in Großbritannien im Sommer 2024, mit dem unsere Milliardäre leicht fertig werden. Zumal sie diese Unruhen in ihren hohen Türmen vermutlich schon längst kommen sehen und sie vielleicht sogar bewusst provozieren werden.

Referenzen

[1] Tatsächlich geht der von Stalin durchgesetzte sozialistische Realismus auf den Impressionismus oder noch ältere Malstile Europas zurück.

[2] Vgl. Dagmar Henn: Moderne Kreuzritter oder – Wenn der Klimaglaube mit dem Dieselverbrauch der Panzer harmoniert, RT DE vom 24.12.2022. Hier beschreibt sie detailliert die Ähnlichkeiten des Klimaglaubens mit einer Religion.

[3] Vgl. Karl-August Wittfogel: Die Theorie der asiatischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1938

[4] Zum Phänomen des Stalinismus vergleiche die Bücher Stalinismus, Berlin 2016 und Aufstieg und Fall des realen Sozialismus, Berlin 2017 von Alfred Kosing. Kosing war einer der wichtigsten Philosophen der DDR. Er kritisiert in den beiden Büchern den Stalinismus, wobei er den Sozialismus im Prinzip durchaus positiv bewertet.

[5] Vgl. Ulrike Heider: Vögeln ist schön, Berlin 2014

[6] Zu Details vgl. Jan Müller: Der vermutlich kommende Klimalockdown und seine Alternativen, in: Autorenkollektiv: Dark Winter, 2021, im Internet: https://magma-magazin.su/broschueren/dark-winter-analysen-zum-corona-kapitalismus/

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22 Kommentare

  1. Jan Mueller 24. Oktober 2024 um 17:36 Uhr - Antworten

    @Varus: Der freie Markt im Westen ist eine Illusion bzw. Ideologie. Es gibt Digitalmonopole. Blackrock und Co. haben auch in der Realwirtschaft ein riesiges Monopol aufgerichtet. Die Frage Marktwirtschaft oder Planwirtschaft stellt sich somit gar nicht mehr. Sondern: Planwirtschaft im Interesse der Milliardäre oder Planwirtschaft im Interesse der Menschen. Also Aladdin + Palantir oder Nutzung von KI zur Planung der Bedarfsdeckung.
    In Russland und China funktioniert der Kapitalismus noch einigermaßen. Aber erfahrungsgemäß kann das nicht ewig so weitergehen. Irgendwann wird es wie im Westen in den 70er Jahren nicht mehr möglich sein, beides zu haben: Üppig sprudelnde Gewinne für die Kapitalisten und Erhöhung des Lebensstandards der Menschen. Die entscheidende Frage ist, wofür sich dann die Regierungen entscheiden werden. Es ist keinesfalls sicher, dass sie sich für die Menschen entscheiden.

  2. Fritz Madersbacher 22. Oktober 2024 um 11:18 Uhr - Antworten

    @Varus
    22. Oktober 2024 um 3:28 Uhr
    Das Problem, dem Sie ausweichen, ist: es gibt keinen Kapitalismus à la carte, der z.B. diverse Annehmlichkeiten (wie ihre Passion, das Fliegen) bietet. Es gibt nur den Kapitalismus, der große Monopole („westliche Oligarchen“), Krisen, Kriege, materielles und psychisches Elend für die Massen, neuerdings „Pandemie“- und „Klima“-Inszenierungen hervorbringt. Wer A sagt, muss auch B sagen, egal, ob er die Zusammenhänge und Ursachen versteht. Er/sie begibt sich geistig ins Schlepptau der angeblich so gehassten „westlichen Oligarchen“, befindet sich im „propagandistischen Koma“ (wie es kürzlich ein Kommentator genannt hat), das jene nunmehr seit Jahrzehnten veranstalten. Dieses Koma, das „Vergessen“ revolutionärer Ideen zusammen mit der nicht mehr zu übersehenden – für die „überreife“ kapitalistische Gesellschaft typischen – Altersschwäche, also das Fehlen der Menschen, die sie umsetzen könnten, mündet nun unweigerlich in einen Niedergang Europas, dessen Ende und Ausgang nicht vorhersehbar sind. Nur wir selbst können das beeinflussen …

    • Varus 22. Oktober 2024 um 13:32 Uhr - Antworten

      China und Russland konnten irgendwie von der orthodoxen Planwirtschaft wegkommen, ohne sich in Oligarchen-Hände zu begeben – es geht, wenn man nur wirklich will. Mit Planwirtschaft hätten die sicherlich nicht die 1. und die 4. Position weltweit beim BIP nach Kaufkraft erreicht – der „große Sprung“ Maos wurde zum Desaster mit Millionen Hungertoten. Erst mit den marktwirtschaftlichen Reformen von Deng Xiao Ping ging es aufwärts.

      In beiden Ländern wächst der Wohlstand – nicht zuletzt auch die Urlaubsreisen.

      • Fritz Madersbacher 22. Oktober 2024 um 14:28 Uhr

        @Varus
        22. Oktober 2024 um 13:32 Uhr
        „In beiden Ländern wächst der Wohlstand – nicht zuletzt auch die Urlaubsreisen“
        Zweifellos. Wie in Europa – vor dem Niedergang? Wie lange? Über den „großen Sprung“ Maos „mit Millionen Hungertoten“ möchte ich mich nicht äußern, es genügen (meine) Kommentare zum Konsens der bekannt wahrheitsliebenden westlichen Qualitätsmedien zu aktuellen Ereignissen (damals wurde er sogar unterstützt von russischer Seite) …

      • Fritz Madersbacher 23. Oktober 2024 um 10:26 Uhr

        „damals wurde er sogar unterstützt von russischer Seite“ – der angesprochene Konsens, illustriert mit den üblichen Schauermärchen …

  3. Der Zivilist 22. Oktober 2024 um 7:54 Uhr - Antworten

    Übrigens können diejenigen, die sich das grüne zensierte Medium nicht verbieten lassen, eine verblüffend klare Ansage von seiner Herausgeberin Simonjan sehen darüber, wie die Briten die Welt mit Rauschgift eroberten (Auch Amis, wie der Roosevelt Clan, sind reich geworden durch den Opiumschmuggel nach China) verblüffend in so fern, als Russland oft ein wenig in seiner ‚russischen Geschichte‘ befangen ist und darüber die Weltgeschichte nicht sieht. Nehmen wir nur Napoleon, der versuchte, die englischen Industrieprodukte aus dem Kontinent rauszuhalten um dort die Industrialisierung in Gang zu setzen. Hätte es einen Deal zwischen Napoleon und dem Zar gegeben, wäre die Bauernbefreiung ein halbes Jh früher erfolgt und entsprechend früher die Industrialisierung. Und Ru wären dadurch die Desaster des Krimkrieges (des ersten) und Hitler’s Überfall erspart geblieben.

  4. Der Zivilist 22. Oktober 2024 um 7:19 Uhr - Antworten

    Und eh ich’s vergesse, das neue Europa könnte auch wie Gaza aussehen. Der deutsche Michel merkt ja erst, was gespielt wird, wenn eine Bombe in seinen Eisbecher fällt .

  5. Der Zivilist 22. Oktober 2024 um 7:15 Uhr - Antworten

    Der Teil der Weltgeschichte, unter dem wir immer noch leiden, hat vor 600 Jahren angefangen (nein, nicht mit Kolumbus, sondern mit den Fahrten der Portugieser entlang der afrikanischen Westküste) und ‚Imperialismus‘ und ‚Westen‘ sind nur Masken, Denkblockaden, um zu verstecken, daß es immer noch derselbe Kolonialismus mit denselben Kolonialmächten ist. Ru wurde wiederholt vorgegaukelt, daß es mit am Tisch sitzen dürfe, aber aktuell kämpft es wieder darum, nicht auf die Speisekarte abzurutschen.

    https://zivilist.substack.com/p/wer-nicht-am-tisch-sitzt-steht-auf

  6. Varus 22. Oktober 2024 um 3:15 Uhr - Antworten

    sie könnte aber auch genutzt werden, um eine globale Planwirtschaft zu schaffen, um hierdurch allen Menschen einen materiellen Überfluss an Konsumgütern bereitzustellen.

    Die Planwirtschaft wurde oft genug im Ostblock ausprobiert – sie hat keinen Überfluss, sondern heftigen Mangel geschaffen. Kein Wunder, dass China und Russland von dem Murks weggekommen sind – jetzt haben sie weitestgehend eine Marktwirtschaft. Vielleicht sogar mehr als die planwirtschaftliche Habeckonomics in Buntschland.

    • triple-delta 22. Oktober 2024 um 8:14 Uhr - Antworten

      Jeder redet oder schreibt eben so wie er es versteht. Welche Auswikrungen hatte denn das COCOM-Embargo auf die Planwirtschaften der sozialistischen Länder? Wie gut kann eine Volkswirtschaft funktionieren, die 95% aller auf dem Weltmarkt kaufbaren Güter selbst herstellen muss, wie die der DDR?

      • Varus 22. Oktober 2024 um 8:39 Uhr

        Den Ostblock-Rückstand im Bereich Mikroelektronik gab es vor allem, weil Stalin die Informatik für unnütz hielt (in seiner Zeit hieß sie Kybernetik) – lieber glaubte er einem Lyssenko. Den so entstandenen Rückstand hat man bis zum Sozialismus-Fall nicht aufgeholt. Heute versuchen sich die USA mit Embargos auf neueste Chips oder auch niederländische Maschinen zur Erstellung welcher – die Chinesen entwickeln einfach eigene. Im vernünftigen System geht es, doch dieses fehlte jahrzehntelang.

  7. Jan 21. Oktober 2024 um 21:53 Uhr - Antworten

    Große Entwicklungen sind multikausal und Darstellungen Vereinfachungen. Dass sich ideologisch Strömungen aus der Gnosis, die einen lebendigen Gott mit entsprechendem Menschenbild ablehnen, durchgesetzt haben, ist wohl unbestritten. Diese werden nicht nur von Milliardären gewollt, sondern vor allem von jenen, die als Sklaven dienen sollen – dies führt zu Verlust von Problemlösungskompetenz!

    Weltpolitik lässt sich in Hinblick auf Energie betrachten. Das sind Kohle und Öl/Gas. Als das regionale Öl zuende ging, schaffte man die chinesische Werkbank mit günstiger Kohle. Man transportierte nicht teuer Kohle, sondern billig Waren. Diese Kohle ist nicht mehr verfügbar. Aus dieser Sicht bestehen Naturgesetze des Ressoucenabbaus, die erkennbarer Logik folgen, zB dass billig abzubauende Ressourcen zuerst abgebaut werden und irgendwann nicht mehr vorhanden sind. Nach dieser Sicht ermöglicht Energie einen Produktivitätsvorteil, der durch komplexere Förderung reduziert wird. Steinkohle aus 10m Tiefe ermöglicht mehr Produktivität als aus 1.500m Tiefe. Abzuziehen sind ebenso Verschiffungen. Damit lässt sich die mysteriöse „secular stagnation“ erklären. Ökonomen haben behauptet, dass der Preis/Aufwand von Energie niemals eine Rolle spielen kann. Wir sehen gegenwärtig in Deutschland, dass diese These falsch ist. Das bedeutet, dass wir die Kosten für die Energiebeschaffung (zu der auch Krieg gehört) nicht unendlich in die Höhe treiben können und dass vorhandene Ressourcen irgendwann nicht mehr ökonomisch abbaubar sind.

    Das US-Fracking produziert heute 30% des Weltbedarfs. 2030 dürfte keine relevante Förderung mehr bestehen. Die regionale Ölföderung reicht weltweit nicht zur Deckung des Bedarfs aus, in Österreich nicht, in Schottland nicht, in Indonesien und Nigeria auch nicht mehr. Das bedeutet, die ganze Welt muss ihr Öl aus dem Gebiet Kaspisches Meer, Iran/Irak, saudische Halbinsel beziehen. Und jene, die das nicht können, werden keine Industrie mehr haben!

    Es geht nicht um Russland, sondern um die Frage, ob die Russen ihr Öl selbst verwenden dürfen oder Europa geben müssen.

    Ressoircenmangel und Klima-Fake in einen Topf zu werfen, macht keinen Sinn, weil die Fakten verschieden sind. Der Ressourcenmangel ist real erkennbar!

    Die Chinesen haben keine Kohle mehr und die riesigen Ölquellen des Iran gekauft. Sie werden sich diese nicht durch Israel/USA nehmen lassen. Ohne dieses Öl bricht die chinesische Wirtschaft zusammen wie die deutsche ohne russisches Gas.

    Wenn man meint, dass der Marxismus, die Gnosis oder die Rothschilds verantwortlich für das Weltgeschehen seien, kann man keine Voraussagen machen. Schaut man auf Energie, ergeben sich große Linien von alleine.

    Natürlich gibt es Interessen, Energie als unerschöpflich darzustellen. Man denke an die große Kampagne der FAZ zum Einsammeln der Frackingmilliarden.

    • Fritz Madersbacher 22. Oktober 2024 um 0:06 Uhr - Antworten

      @Jan
      21. Oktober 2024 um 21:53 Uhr
      „Es geht nicht um Russland, sondern um die Frage, ob die Russen ihr Öl selbst verwenden dürfen oder Europa geben müssen“
      Eine der Ursachen für den Niedergang Europas ist, dass es sich (immer noch) solche dummen (oder bösartig imperialistischen) Fragen stellt …

  8. Andrweas 21. Oktober 2024 um 21:09 Uhr - Antworten

    Außerordentlich lesenswerter Artikel. Gute Diskussionsgrundlage.
    Wenn die Rezension stimmt, stützt sich der Autor aber auch nicht auf Marx, er berschreibt nicht die Entwicklung der Produktivkräfte.
    Sondt aber viele interessante und einleuchtende Thesen.

  9. Fritz Madersbacher 21. Oktober 2024 um 20:07 Uhr - Antworten

    Europas Niedergang, vorgeführt als Niedergang der EU, ist ein Ausdruck des Fehlens von Erneuerungskräften. Darin besteht der Pyrrhussieg des Kapitalismus und seiner herrschenden Klassen: die Arbeiterbewegungen sind durch ihre sozialdemokratischen Führungen in die kapitalistischen Strukturen integriert worden, aber den so „befriedeten“ kapitalistischen Gesellschaften wachsen ihre Probleme über den Kopf.
    Wie es im Artikel heißt: „Allerdings können sie [=proletarische Revolutionen] nur siegen, wenn die Arbeiter ein klares Verständnis von ihren Aufgaben und ihren Gegnern haben“. Dort, wo sie dieses klare Verständnis entwickelt haben, haben sie proletarisch-revolutionäre Organisationen und Parteien gebildet und Revolutionen durchgeführt, werden es auch in Zukunft tun.
    Aber diese Revolutionen sind gescheitert und in „Realsozialismus“ gemündet. Die Ursache dafür hat Mao Tsetung (der heute größtes Ansehen in der „globalen Mehrheit“, weniger bei den bürgerlichen, aber national gesinnten Machthabern Chinas, genießt) beschrieben: „Man macht die sozialistische Revolution und weiß nicht, wo die Bourgeoisie sitzt: sie sitzt mitten in der Kommunistischen Partei – es sind die Parteimachthaber, die den kapitalistischen Weg gehen“. Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ war gegen diese bürgerlichen Machthaber gerichtet und ein Kampf um die Fortsetzung des sozialistischen Wegs. Worin dieser besteht, hat schon Karl Marx hat sehr klar formuliert:
    „Dieser [proletarische] Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlichen Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen hervorgehen“ (Karl Marx, „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“, Januar – 1. November 1850)

    Davon sind wir heute sehr weit weg, obwohl in Europa die Überwindung der feudalen Verhältnisse durch den beginnenden Kapitalismus stattgefunden hat und die ersten (revolutionären) Arbeiterbewegungen gegen die kapitalistische Ausbeutung entstanden sind. Die fortschrittlichen Ideen, die dabei entwickelt wurden und erst die Analysen von Karl Marx zur Periode des Kapitalismus ermöglicht haben, sind nicht Gegenstand der Schulbildung, die von immer oberflächlich seichterer Indoktrination beherrscht wird: die herrschenden Ideen sind die Ideen der Herrschenden, und Europa ist nicht zuletzt auch deswegen – wegen des Verlustes seiner eigenen kulturellen Traditionen – im Niedergang begriffen …

  10. triple-delta 21. Oktober 2024 um 16:51 Uhr - Antworten

    Endlich mal jemand, der Hannah Arendt durchschaut. Es steht viel Richtiges in diesem Text, aber einige entscheidende Aspekte fehlen. Dazu sollte weiterführend von Lossurdo „Der westliche Marxismus“ gelesen werden. Lossurdo begreift und erklärt die Entwicklung bedeutend umfassender als Ritz. Vor allem geht er dem Stalinismus nicht auf dem Leim. Daran erkennt man die westliche Sozialisierung von Hauke Ritz. Deshalb kann er auch den Zusammenbruch der SU nicht erklären. Dieser begann mit dem Staatsstreich Chrustschows und wurde von Gorbatschow vollendet. So ist auch der Bruch zwischen China und der SU zu erklären, die den Stalinismus sofort richtig erkannt und abgelehnt haben.

    • Fritz Madersbacher 21. Oktober 2024 um 23:59 Uhr - Antworten

      @triple-delta
      21. Oktober 2024 um 16:51 Uhr
      Das revolutionäre China hat nicht mit Stalin, sondern mit seinem im Westen gefeierten Verleumder Chruschtschow gebrochen, der einer jener bürgerlichen Parteimachthaber in der Kommunistischen Partei war, die den kapitalistischen und nicht den sozialistischen Weg gehen, wie Mao Tsetung es ausdrückte …

      • triple-delta 22. Oktober 2024 um 19:12 Uhr

        Genau das meinte ich ja auch.

    • Varus 22. Oktober 2024 um 3:28 Uhr - Antworten

      Deshalb kann er auch den Zusammenbruch der SU nicht erklären.

      Man hätte nur eine Weile im Ostblock leben und den dortigen Unfug erleben müssen – die meisten Leute sind froh, dass es endlich vorbei ist. Leider schwirren im Westen immer noch Marxismus-Glaubenden:innen, die nicht müde werden, uns zu erzählen, was für Paradies wir angeblich hatten. Für gewöhnlich rennen solche Typen:innen anschließend zur nächsten NGO eines Oligarchen, sich bisserl zu verkaufen – wenn man nichts als Marxismus gelernt hat, dennoch was vom Luxus haben möchte. Ich erinnere mich, TKP brachte mal einen Artikel darüber, wie gerne man sich in solchen Kreisen der westlichen Oligarchie verkauft – dies dürfte erklären, wieso man dort so gerne Parolen aus den Oligarchen-Projekten wie „Klimakatastrophe“ nachbrabbelt.

      Es war schon richtig in Russland und China, das Unternehmertum zu erlauben – aber nicht, dass man mit dem angehäuften Geld versucht, die Politik zu kaufen.

      • triple-delta 22. Oktober 2024 um 8:16 Uhr

        Sprechen Sie bitte nur für sich selbst. Sie haben ja selbst den Marxismus nicht verstanden. China setzt übrigens nur Lenins NÖP fort.

      • Varus 22. Oktober 2024 um 8:51 Uhr

        Mit einem Ingenieur-Diplom (sogar zwei davon) hatte ich nie das Bedürfnis, vom Marxismus leben zu müssen. In der ersten Fakultät der TU wurde uns zwar auch einen Semester lang „marxistische Philosophie“ aufgebrummt, doch der Dozent legte viel Wert darauf, dass wir zu den Vorlesungen gar nicht erscheinen, damit er den ganzen Murks nicht erzählen muss. Zum Ende hat er jedem im Studentenbuch unterschrieben und das wär‘s mit dem Marxismus.

        Sicherlich laufen viele rum, welche nur irgendwelche „marxistische Genderologie“ oder ähnlich mitgenommen haben – die müssen sich für Klebeaktionen vermieten oder obskuren NGOs, die plappern, was in Davos beschlossen wurde.

      • Fritz Madersbacher 22. Oktober 2024 um 11:20 Uhr

        @Varus
        22. Oktober 2024 um 3:28 Uhr
        Das Problem, dem Sie ausweichen, ist: es gibt keinen Kapitalismus à la carte, der z.B. diverse Annehmlichkeiten (wie ihre Passion, das Fliegen) bietet. Es gibt nur den Kapitalismus, der große Monopole („westliche Oligarchen“), Krisen, Kriege, materielles und psychisches Elend für die Massen, neuerdings „Pandemie“- und „Klima“-Inszenierungen hervorbringt. Wer A sagt, muss auch B sagen, egal, ob er die Zusammenhänge und Ursachen versteht. Er/sie begibt sich geistig ins Schlepptau der angeblich so gehassten „westlichen Oligarchen“, befindet sich im „propagandistischen Koma“ (wie es kürzlich ein Kommentator genannt hat), das jene nunmehr seit Jahrzehnten veranstalten. Dieses Koma, das „Vergessen“ revolutionärer Ideen zusammen mit der nicht mehr zu übersehenden – für die „überreife“ kapitalistische Gesellschaft typischen – Altersschwäche, also das Fehlen der Menschen, die sie umsetzen könnten, mündet nun unweigerlich in einen Niedergang Europas, dessen Ende und Ausgang nicht vorhersehbar sind. Nur wir selbst können das beeinflussen …

        (ist leider vorhin ganz oben gelandet, mein Fehler)

Regeln für Kommentare: Bitte bleibt respektvoll - keine Diffamierungen oder persönliche Angriffe. Keine Video-Links. Manche Kommentare werden erst nach Prüfung freigegeben, was gelegentlich länger dauern kann.

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