Erasmus – eine skurrile Ikone des europäischen Universitätslebens

6. Oktober 2024von 4,5 Minuten Lesezeit

ERASMUS ist ein Förderprogramm der Europäischen Union, das seit 1987 Studenten beim Wechsel an Universitäten in andere Länder unterstützt. Der Name entstand als sichtlich gequältes Akronym von “EuRopean Community Action Scheme for the Mobility of University Students“, um einem Erasmus von Rotterdam Referenz zu erweisen.

Das Renommé des Namenspatrons beruht weder auf wissenschaftlicher Leistung noch auf dessen akademischer Karriere. Erasmus zeichnete sich zwar durch Mobilität aus, allerdings lagen dieser weniger Berufungen als Selbstschutz und private Sachzwänge zugrunde. Für das heutige Förderprogramm hätte ihm schon der ordentliche Schulabschluss gefehlt. Ein Blick hinter die Fassade dieser schillernden Figur mit scharfer Feder.

Schon Name und Lebensstationen werfen Fragen auf, die ihn als Ikone europäischer Gelehrsamkeit ins Zwielicht rücken. Authentisch ist höchstens einer seiner beiden Vornamen. Seinen zweiten Vornamen „Desiderius“ gönnte er sich im Alter von etwa 30 Jahren selbst. Er stammt weder aus Rotterdam, noch ist das eine adelige Abstammung suggerierende deutsche „von“ angebracht. Anachronistisch war diese Verknüpfung zu einem Ort bereits damals. Erasmus war bestenfalls ein „van Gouda“, wo er irgendwann in den späten 1460er Jahren als uneheliches Kind eines Pastors geboren worden sein soll.

Obskur sind nicht nur Name und Herkunft, sondern auch seine Biographie. Trotz seiner häufigen Reisen zwischen und in den Niederlanden, Frankreich, England und Italien liegen die meisten Lebensstationen und vor allem die Zeiten seiner Ausbildung merkwürdig im Dunkel. Ohne Schulabschluss ging er in ein Kloster der Augustinerchorherren. Versehen mit der Priesterweihe schaffte er es an die Pariser Universität, die er wiederum ohne Abschluss verließ. Dennoch soll ihn ein Ruf auf einen Lehrstuhl an der flämischen Universität Leuven erreicht haben, den er ausgeschlagen hätte.

1506 verfügte er plötzlich über einen Doktortitel der Theologie verliehen von der Universität Turin, mit dem er fünf Jahre lang einen Lehrauftrag am Queens’ College der Universität Cambridge ausübte. Trotz seiner brillianten Kompetenz in Latein und dem Altgriechischen scheiterte er dort außerhalb des Hörsaals an der englischen Sprache und konnte als Rektor einer Kirchengemeinde seinen seelsorgerischen Pflichten nicht nachkommen. Mit fadenscheinigen gesundheitlichen Gründen beendete er seine Tätigkeit und tauchte dann doch in Leuven an der Universität auf, wo er mitgeholfen haben soll, das erste dreisprachige Kollegium (Latein, Griechisch, Hebräisch) aus der Taufe zu heben. Für das neue „Altgriechisch“, das die Humanisten der Gelehrtenrepublik jetzt aus dem Hut zogen, fabulierte er ohne irgendwelche Belege eine Aussprache und Silbenbetonung. Als Hochschullehrer ist er allerdings nicht aktenkundig geworden.

Nach 1520 soll Erasmus vom neuen Papst Hadrian VI. bestürmt worden sein, als Berater für eine Kirchreform nach Rom zu kommen. Wiederum verweigerte er sich, obwohl er keine feste Anstellung hatte und als freier Autor lebte. Die Berufungen kennen wir allerdings nur aus seinen eigenen Aufzeichnungen, in denen Dichtung und Wahrheit schwer zu unterscheiden sind.

Erst in seinen letzten 20 Lebensjahren brachte er es als Hausautor des damals europaweit führenden Baseler Verlegers Froben mit seinen literarischen Plaudereien auf die Bestsellerlisten. Seine Übersetzungen des Neuen Testaments in Griechisch und Latein erreichten zu seinen Lebzeiten Auflagen von über 100.000 Exemplaren. Bei seinem Tod 1536 hatte er damit ein Vermögen von 5.000 Gulden (umgerechnet etwa 500.000 Euro) erwirtschaftet, das nach seinem Ableben in einer Stiftung noch über mehrere Generationen an Bedürftige verteilt wurde.

444 Werke in einem 120-seitigen Werkverzeichnis werden uns heute glaubhaft gemacht, obwohl Erasmus erst im Alter von etwa 50 zu publizieren begann. Wissenschaftliche Abhandlungen sucht man darunter aber vergeblich. Bei seinem bis heute bekanntesten Buch, den Colloquia familiaria („Vertraute Gespräche“) handelt es sich um ausgefeilte gelehrte Plaudereien zur Förderung des Lateinischen im Alltag. Gesellschaftskritik und damit auch die Missbräuche im Kirchenkonzern kamen dabei nicht zu kurz. Fast schon verwunderlich, dass erst 1559, 23 Jahre nach seinem Tod, alle seine Schriften zensiert und auf den „Index der verbotenen Bücher“ gesetzt wurden. Das blieb bis 1963 aufrecht. Solange galt Erasmus als Ketzer, der von gläubigen Katholiken keinesfalls gelesen werden durfte.

Seinem Ruf in der protestantischen Welt tat dies allerdings keinen Abbruch. Erstaunlich schnell kam es ab den 1960er Jahren zur Rehabilitierung auch unter katholischen Akademikern und seinem Aufstieg zu einem „Universitätsheiligen“. Der Kirchenkonzern hatte schließlich nach dem Verschwinden der Talare aus den Hörsälen seinen Einfluss auf die universitäre Bildung keineswegs verloren. Zu danken ist dies wohl der Stilisierung der Renaissance zum Startschuss der Neuzeit. Eigentlich war der Reset der Renaissance jedoch eine Art „build back better“, in dem man den Höhepunkt des europäischen Geisteslebens einer fantasievoll ausgestalteten griechischen und römischen Vergangenheit zuschrieb. Es ist also kein Zufall, dass einer der sprachmächtigsten Propagandisten der Gelehrtenrepublik zur Galionsfigur des europäischen Universitätslebens taugt.

Bild: Rijksmuseum, CC0, via Wikimedia Commons

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wider. Rechte und inhaltliche Verantwortung liegen beim Autor.

Dr. med. Gerd Reuther ist Radiologe, Medizinaufklärer und Medizinhistoriker. Er hat 8 Bücher veröffentlicht, darunter die Bestseller „Der betrogene Patient“ und „Die Kunst, möglichst lange zu leben“. Dr. phil. Renate Reuther ist Historikerin. Gemeinsam haben sie 3 Bücher veröffentlicht, zuletzt „Die Eroberung der Alten und Neuen Welt. Mythen und Fakten.“


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2 Kommentare

  1. Fritz Madersbacher 6. Oktober 2024 um 21:11 Uhr - Antworten

    Stefan Zweig schickte seiner literarischen Biografie „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ (erschienen 1934) folgendes Zitat aus den satirischen ‚Epistolae obscurorum virorum‘ voraus (die „Dunkelmännerbriefe“ von 1515 richteten sich gegen die Kölner Dominikaner, die eine Verbrennung jüdischer Schriften befürworteten):
    „Ich versuchte zu erfahren, ob Erasmus von Rotterdam bei jener Partei sei. Aber ein gewisser Kaufmann erwiderte mir: „Erasmus est homo pro se“ (Erasmus steht immer für sich allein)“

    Für Luther war Erasmus ein kompromißbereiter Opportunist, der es sich nicht mit der katholischen Kirche und dem Papst verscherzen wollte. Zweig benutzte Erasmus zur Selbstverteidigung: als ihm die Exilgemeinde deutscher Autoren Opportunismus gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland vorwarf, reagierte er auf diese Anschuldigungen mit einer verschleierten Selbstdarstellung in Buchform: anhand der Biografie des berühmten Universalgelehrten Erasmus von Rotterdam suchte er seine eigene Position als Künstler und Intellektueller darzulegen.

    Wie auch immer: des Erasmus „Adagia“ („Sprichwörter“) oder sein „Lob der Torheit“ sind durchaus unterhaltsam und mit Gewinn zu lesen; dass er für die EU als „Galionsfigur des europäischen Universitätslebens“ (und dessen „Verschulung“ zur Behinderung selbstständiger Entwicklung) herhalten muss, hat er nicht unbedingt verdient. Aber es gibt ja vielleicht auch noch Universitäten oder Institute, die sich dieser Zwangsbeglückung zu widersetzen suchen …

  2. Sabine Schoenfelder 6. Oktober 2024 um 20:16 Uhr - Antworten

    Sehr interessant ! Vielen Dank. ❤️ Bald wird es vom GATES-Förderprogramm abgelöst.😁👍
    G-lobaler A-ustausch für T-umbe und E-infältige S-tudenten. 😂
    Ein Backronym. 🤸

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