
Kontoverse um Ansteckung durch Kinder: führender Wiener Infektiologe für Normalbetrieb in Schulen
Am Umgang mit Kindern in der Coronakrise erhitzen sich seit einiger Zeit die Gemüter. Es stellte sich rasch heraus, dass Kinder – anders als bei Grippe – kaum betroffen und wenig ansteckend sind. Dem widersprach eine Studie der Berliner Charité unter Beteiligung des Star-Virologen Christian Drosten. Daran gibt es heftige Kritik und scharfe Auseinandersetzungen.
Die Studie der Charité hatte die im eigenen Labor früher untersuchten Proben von Kindern nochmals analysiert und hatte gefunden, dass die Virenlast gleich groß wie bei Erwachsenen sei. Daraus hatte man den Schluss gezogen, dass Kinder auch gleich ansteckend wie Erwachsene seien und Schulen und Kindergärten nicht geöffnet werden sollten: „Based on these results, we have to caution against an unlimited re-opening of schools and kindergartens in the present situation. Children may be as infectious as adults.“
Und da als Ansprechpartner der Studie der deutsche Regierungsberater Drosten angeführt ist, hat diese Aussage natürlich – zumindest in Deutschland und für die deutsche Regierung – Gewicht. Drosten selbst empfahl Kanzlerin Angelika Merkel am 13. März Schulschließungen – am 6. März war er noch dagegen gewesen.
Studien mit Kindern kommen zu anderen Ergebnissen
Die Studie der Charité befasst sich mit Speichelproben und zieht daraus Schlüsse. Studien mit Kindern selbst und deren Interaktionen kommen zu völlig anderen Ergebnissen. Bereits sehr früh war erkennbar, dass Kinder kaum angesteckt werden, nicht erkranken und andere nur sehr selten infizieren. Dazu gab es schon frühzeitig Studien und Untersuchungen.
Eine große Untersuchung aus Australien in 15 Schulen und 863 Kontaktpersonen von 18 Infizierten über einen Monat, ergab gerade mal zwei Ansteckungsfälle von Kindern. Von den 128 beteiligten Lehrern wurde jedoch niemand infiziert.
Kritik von Fachärzten
Prof. Matthias Keller, Chefarzt der Kinderklinik Dritter Orden in Passau und Vorstand der Süddeutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (SGKJ), wandte sich in einem gemeinsamen Statement der Klinik und der SGKJ an die Öffentlichkeit. Die Kritik begründet er vor allem darin, dass die Drosten Studie keine Aussage über die Ansteckung, sondern nur über die Viruslast zulasse – dies aber anders kommuniziert worden sei.
“Wir wissen, dass die Infektionsgefahr von Kindern 70 Prozent weniger ist, als bei Erwachsenen”, bezieht sich Keller in einer Video-Botschaft auf eine neue Studie aus China. Weil die Datenlage auch zeige, dass Kinder weniger an Covid-19 erkranken, sei unter Abwägung ethischer Gesichtspunkte eine “weitere absolute Schließung von Grundschulen und Kindertagesstätten nicht gerechtfertigt”, heißt es in der Stellungnahme der SGKJ.
Auch aus Österreich gibt es nun eine Stimme der Vernunft von dem Infektiologen, der Primar des österreichischen Leit-Spitals in Sachen Coronavirus ist. Auf Puls4 sprach sich Christoph Wenisch vom Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital für eine komplette Öffnung der Schulen aus:
„Kinder haben für die Übertragung vermutlich eine geringe Bedeutung. Kinder sind kaum betroffen und das bedeutet, dass man hier die Freiheitsgrade erhöhen sollte in Richtung Normalität – das sollte man jetzt rasch tun.“ Auf Nachfrage von Corinna Milborn, ob man mit diesem Wissen die Schulen jetzt aufmachen könnte, betont Wenisch nachdrücklich: „Das möchte ich auf jeden Fall, da wäre ich dafür.“
Kritik auch von Behörden
In die Reihen der Kritiker an den Schulschließungen hat sich auch die norwegische Gesundheitsbehörde FHI ein. Das FHI hatte sich frühzeitig dagegen ausgesprochen, die Kinder vom Unterricht vor Ort fernzuhalten. FHI-Direktorin Camilla Stoltenberg meint: „Wenn Kinder in dem Alter lange zu Hause sind, wird es schwieriger zu kontrollieren, was sie tun, als wenn sie in der Schule sind.“
Politik und Wissenschaft
Die Bild-Zeitung hat mit einer reißerisch aufgemachten Story Drosten heftig angegriffen. Zitiert wurden Wissenschaftler, die die Studie als falsch und unwissenschaftlich gemacht kritisieren. So sieht etwa der renommierte britische Statistiker David Spiegelhalter Drostens Studie als unqualifiziert. Der Cambridge-Professor kritisiert die statistische Analyse als “unzureichend” und fordert Drosten auf Twitter sogar auf, die Publikation zurückzuziehen. Er distanziert sich allerdings nachträglich von den Angriffen auf Drosten.
Das Problem mit derartigen ungeprüften Studien, die noch dazu vielen anderen Erkenntnisse widersprechen, ist allerdings, dass sie unmittelbar die Politik beeinflussen und daher Teil der politischen Auseinandersetzung werden. Und damit bekommen sie eine andere Öffentlichkeit, als Querelen in der Wissenschaftler-Community, die gelegentlich an Heftigkeit nichts zu wünschen übrig lassen.
Anderer Meinung über die Gefahren, die von Kindern ausgehen, ist übrigens auch Deutschlands erfahrenster Virologe, nämlich Detlev Krüger. Er leitete das Institut für Virologie an der Berliner Charité 27 Jahre lang, bis 2016 Drosten zu seinem Nachfolger wurde.
Norwegische Experten kritisieren Schulschließungen als unnötig