Britische Epidemiologin: Covid-19 ist auf dem Rückzug

25. Mai 2020von 5,5 Minuten Lesezeit

Es ist eine Frage, an der sich die Geister scheiden und die heftigst diskutiert wird: Ist Covid-19 eine gefährliche Krankheit, die bisher nur ein kleiner Teil unserer Bevölkerung hatte? Oder ist es eine viel mildere Pandemie, von der bereits ein großer Prozentsatz betroffen war und die auf dem Rückzug ist?

Für die erste Theorie ist – zumindest im UK – Professor Neil Ferguson vom Imperial College das Aushängeschild, während Sunetra Gupta, Professor für Theoretische Epidemiologie an der Universität Oxford, eine Vertreterin der zweiten ist. Ihre Gruppe in Oxford produzierte bereits im März ein Konkurrenzmodell zu Ferguson, das die Annahme vertrat, dass möglicherweise bereits 50% der Bevölkerung infiziert waren und die tatsächliche Sterblichkeitsrate bei Infektionen nur 0,1% betragen könnte.

Wie aussagekräftig sind Antikörper Studien

Seitdem gab es weltweit einige Antikörperstudien, wie etwa die in Schweden oder kürzlich auch die in Ungarn, die auf einen enttäuschend geringen Prozentsatz der Immunität hinweisen – dem Prozentsatz der Bevölkerung die Covid-19-Antikörper nachweisbar hat. Es schien, als sei Fergusons Ansicht der Wahrheit näher gekommen.

In ihrem ersten Interview seit Veröffentlichung der Oxford-Studie im März ist Professor Gupta jedoch mehr denn je  davon überzeugt, dass ihre ursprüngliche Meinung richtig war.

Aus ihrer Sicht zeigen die Antikörperstudien, obwohl sie nützlich sind, nicht das wahre Expositionsniveau oder Immunitätsniveau an. Erstens sind viele der Antikörpertests „äußerst unzuverlässig“ und beruhen auf einer schwer zu erzielenden repräsentativen Auswahl.

Noch wichtiger ist jedoch, dass viele Menschen, die dem Virus ausgesetzt waren, andere Arten von Immunität haben, die bei Antikörpertests nicht sichtbar werden – entweder aus genetischen Gründen oder aufgrund bereits bestehender Immunitäten gegen verwandte Coronaviren von Erkältungen. Diese Vermutung wird durchaus auch von der Berliner Charité und Christian Drosten geteilt, die von einer Art Grundimmunität durch frühere Corona-Grippe-Epidemien ausgehen.

Die Implikationen davon sind tiefgreifend – es bedeutet, dass der Prozentsatz, der positiv auf Antikörper getestet wird, nicht unbedingt dem Prozentsatz entspricht, der Immunität oder Resistenz gegen das Virus aufweist. Die wahre Zahl könnte viel höher sein, so Gupta.

Ähnliche Muster der Epidemie in verschiedenen Ländern

Die Beobachtung der sehr ähnlichen Muster der Epidemie in verschiedenen Ländern der Welt hat Professor Gupta davon überzeugt, dass diese verborgene Immunität, mehr als Lockdown oder staatliche Eingriffe, die beste Erklärung für das Fortschreiten von Covid-19 bietet:

„In fast allen Beispielen haben wir gesehen, wie die Epidemie gewachsen ist, die Richtung gedreht hat und abgeklungen ist – fast wie ein Uhrwerk. Verschiedene Länder hatten unterschiedliche Richtlinien beim Lockdown und dennoch haben wir ein nahezu einheitliches Verhaltensmuster beobachtet, das in hohem Maße mit dem SIR-Modell (Susceptible, Infected, Resistant) übereinstimmt. Für mich deutet dies darauf hin, dass ein Großteil der treibenden Kraft hier auf den Aufbau von Immunität zurückzuführen ist. Ich denke, das ist eine einfachere Erklärung, als dass in jedem Land der Lockdown (oder verschiedene Lockdowns, einschließlich keinem Lockdown) den gleichen Effekt hat.“

Niedrige Mortalitätsraten und Kritik an Lockdown Politik

Auf die Frage, wie hoch ihre aktualisierte Schätzung für die Infektionssterblichkeitsrate ist, sagt Professor Gupta: „Ich denke, dass die Epidemie weitgehend stattgefunden hat und sich im UK auf dem Rückzug befindet, also etwa bei 1 zu 1000 aber wahrscheinlicher noch bei 1 zu 10.000. “ Das wäre irgendwo zwischen 0,1% und 0,01%.

Professor Gupta bleibt auch offen kritisch gegenüber der Lockdown-Politik der Regierung: „Die Regierung verteidigt, dass dies [das Modell des Imperial College] ein plausibles Worst-Case-Szenario war. Ich stimme zu, dass es ein plausibles – oder zumindest mögliches – Worst-Case-Szenario war. Die Frage ist, sollten wir angesichts der Kosten für den Lockdown mit einem mögliches Worst-Case-Szenario agieren? Es scheint mir, dass dieser Fall angesichts der steigenden Kosten für die Quarantäne immer fragiler wird. “

Sie empfiehlt „einen schnelleren Ausstieg aus den Maßnahmen„. Sie glaubt nicht, dass die R-Rate ein nützliches Instrument ist, um Entscheidungen über die Regierungspolitik zu treffen, da eine R-Rate „hauptsächlich davon abhängt, wie viele Menschen immun sind“ und wir diese Informationen nicht haben.

Sie glaubt, dass Todesfälle die einzig verlässliche Maßzahl sind und dass die Anzahl der Fälle nicht einmal angegeben werden sollte, da dies so stark von der Anzahl der durchgeführten Tests abhängt.

Das Problem der Hotspots

Sie erklärt die höheren Zahlen in Orten wie New York, wo der IFR höher als 0,1% zu sein scheint, durch eine Kombination von Umständen, die zu ungewöhnlich schlimmen Ausbrüchen führten, einschließlich der Infektionslast und der Zusammensetzung der Bevölkerung: „Wenn Sie Ansammlungen mit schutzbedürftigen Personen haben, kann dies dazu führen, dass diese stärker betroffen sind, als wenn die gefährdeten Personen stärker in der allgemeinen Bevölkerung verstreut wären.“

Abstand halten schadet längerfristig

Sie glaubt, dass eine längerfristige soziale Distanzierung im Lockdown-Stil uns anfälliger und nicht weniger anfällig für Infektionskrankheiten macht, weil die Menschen vor Krankheitserregern ungeschützt bleiben: „Unter dem Gesichtspunkt der Anfälligkeit der gesamten Bevölkerung für neue Krankheitserreger ist es äußerst gefährlich, in einem Zustand des Lockdown zu bleiben. Tatsächlich lebten wir vor 100 Jahren in einem Zustand, der ungefähr der heutigen Lockdown entsprach und das war der Grund, warum die spanische Grippe 50 Millionen Menschen töten konnte.“

Und zur Politik

Sie kommentiert die Reaktion der Regierung auf das Virus und meint, dass eher über- statt unter-reagiert wurde: „Ich denke, es besteht die Möglichkeit, dass es besser gewesen wäre, wenn wir überhaupt nichts getan hätten oder zumindest etwas anderes, nämlich die Gefährdeten zu schützen und vor 30 oder 40 Jahren nicht die Krankenhausbetten reduziert hätten.

Und sie glaubt, dass es sehr wahrscheinlich gut geht, wenn wir morgen wieder ganz normal werden – Pubs, Nachtclubs, Festivals -, akzeptiert aber, dass dies mit den aktuellen Informationen schwer zu beweisen ist: „Also, was machen wir? Ich denke, wir wägen diese Möglichkeit gegen die Kosten des Lockdown ab. Ich denke, es ist unsinnig, über Lockdown zu sprechen, ohne die enormen Kosten zu beachten, die für andere gefährdete Sektoren der Bevölkerung entstehen.“

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